Das Haus des dreifachen Friedens


II

Ziellos streifte Tishanea durch Seestadt. Über kopfsteingepflasterte, mit Steinhäusern gesäumte Straßen gelangte sie zu den Floßpfaden der Bucht, die zwischen Holzhäusern auf fest verankerten Flößen verliefen. Wie von Schurac befohlen, hatte Tishanea ein Zimmer in einem Hafengasthof gemietet. Es war ihr unerwartet schwer gefallen, den Gasthof zu betreten und die Wirtin nach einem freien Zimmer zu fragen. Dabei brauchte sie nicht zu fürchten, dass man ihr mit Misstrauen begegnen würde. Natürlich reisten die meisten Wasserhaften in Gruppen. Händler, die aus anderen Städten kamen, brauchten ihre Gehilfen. Trotzdem war eine einzelne Reisende keine verdächtige Erscheinung. Einsame Wasserhafte kamen immer wieder auf der Suche nach Arbeit oder nach Abenteuern nach Seestadt. Nicht einmal wegen ihres Alters erntete Tishanea mehr neugierige Blicke als jeder andere Neuankömmling. Zwar zogen nur wenige Neunzehnjährige allein los, aber ihre Volljährigkeit erreichten die Wasserhaften bereits mit sechzehn Jahren. Also fand Tishanea nur einen Grund für ihr tiefes Unbehagen: Ihr Zöglingsdasein war schuld. Während ihrer zwölf Jahre im Haus des dreifachen Friedens hatte sie nie etwas völlig Normales gelernt. Nie hatte sie sich in einem Gasthaus eine Mahlzeit bestellt oder auf einem Markt eingekauft. Und nie hatte sie mit wahren Wasserhaften zu tun gehabt. Die Wasserhaften auf dem Mittleren Grund waren noch viel weiter davon entfernt, wahre Wasserhafte zu sein, als Tishanea gedacht hatte. Kein Wunder, dass jeder Kontakt mit einem wahren Wasserhaften ihr heftiges Herzklopfen verursachte. Die Friedenslehrer hatten sie ihrer Haftigkeit entfremdet – gegen alle ihre Versprechungen und trotz allen Widerstands, den Tishanea gegen ihre Lektionen geleistet hatte. Andernfalls müsste sie sich nicht ständig fragen, ob sie sich richtig verhielt, oder ob jeder sofort erkannte, dass sie nicht in einer wasserhaften Stadt aufgewachsen war. Schurac hatte sie gewarnt, dass sie einige Tage zur Eingewöhnung brauchen würde. Vor ihrer Ankunft in Seestadt war ihr die Warnung lächerlich erschienen. Nun erkannte Tishanea die Lüge dahinter. Die Friedenslehrer wussten, wie sehr sie die Zöglinge ihren Heimatstädten entfremdet hatten, und wollten ihnen vorgaukeln, dass es nur halb so schlimm sei. Selbst wenn Tishanea vorgehabt hätte, in den Hafenschenken ihre erfundene Lebensgeschichte zum Besten zu geben, hätte sie es nicht über sich gebracht. Am schlimmsten war jedoch die fehlende Erinnerung an die Straßen von Seestadt. Keine einzige wollte ein vertrautes Gefühl wecken. Vor allem die Floßpfade sahen allesamt gleich aus. Mehrmals hatte Tishanea sich bereits auf ihren Streifzügen eingestehen müssen, dass sie nicht mehr wusste, wo sie sich befand und welcher der kürzeste Weg zurück zum Hafen wäre. Ihre Wut auf das Haus des dreifachen Friedens wuchs noch schneller als ihre Mutlosigkeit. Wie hatten die Friedenslehrer ihr das nur antun können? Wie hatten sie es zulassen können, dass sie ihre Heimatstadt nicht mehr kannte? Dass sie nicht einmal mehr jenes Floßhausviertel fand, in dem sie als Kind gewohnt hatte – und wo ihre Familie wahrscheinlich immer noch wohnte? Dies war keine Heimkehr. Dies war ein Besuch in einer fremden Stadt, von der ein Kind ihr vor langer Zeit erzählt hatte. Wie viel besser wäre es gewesen, sich in einer Stadt wiederzufinden, in der sie tatsächlich noch nie gewesen war! Dann wäre es ein interessantes Unterfangen gewesen, die Straßen und Pfade zu erkunden, das Treiben im Hafen zu beobachten, und vielleicht sogar ein Gespräch mit einem Stadtbewohner anzuknüpfen. Aber sie war in Seestadt. Sie sollte alles über diese Stadt wissen, oder zumindest sollten ihre Erinnerungen wieder aufleben. An diesem Morgen – dem dritten seit ihrer Ankunft – war es Tishanea bereits schwer gefallen, einen Grund dafür zu finden, ihre Hängematte zu verlassen. Zuletzt hatte der Hunger sie hinausgetrieben. Doch nach einem Frühstück aus Brot und Räucherfisch fühlte sie sich kaum besser. Es schien sinnlos, einen weiteren Tag kreuz und quer über die Floßpfade zu laufen. Niedergeschlagen kehrte Tishanea auf die Steinstraßen zurück und folgte dem Verlauf der Bucht, entlang der Grenze zu den Floßvierteln. Sie hielt nicht inne, als sie den Strand erreichte. Mit gesenktem Kopf stapfte sie weiter durch den Sand, bis die letzten Häuser hinter den immer höheren, mit grobem Gras bewachsenen Dünen zurückfielen. Dann blieben auch die Dünen zurück, verdrängt von steil aufragenden, scharfen Klippen. Immer schmäler wurde der Strand, bis er an einer Klippenwand endete. Düster starrte Tishanea die Wand hinauf. Dort oben lag der Mittlere Grund. Abrupt machte die Wasserhafte auf der Ferse kehrt und warf sich ins Meer. Tishanea tauchte, bis ihr ganzer Körper nach Luft schrie. Als sie durch die Wasseroberfläche brach, war sie erstaunt, wie weit der Strand hinter ihr lag. Das mickrige Schwimmbecken im Haus des dreifachen Friedens hatte ihre Fähigkeiten nie und nimmer messen können! Wilder Triumph wogte in Tishanea auf. Eines hatten die Friedenslehrer ihr nicht zu nehmen vermocht: Ihre wasserhafte Natur. Die Schwimmhäute zwischen ihren Fingern und Zehen, die sie mühelos durchs Wasser schnellen ließen. Augen, die unter Wasser beinahe so gut sahen wie an der Oberfläche. Ohren, die sich beim Tauchen dem steigenden Wasserdruck anpassten. Kräftige Lungen und ausdauernde Muskeln. Teils über Wasser, teils unter Wasser durchquerte Tishanea die Seestädter Bucht, voll unbändiger Freude über jeden freien Zug. Ausgepumpt, aber mit neuem Mut erreichte sie die äußeren Floßpfade. Die See war immer noch ein Teil von ihr. Also würde auch Seestadt bald wieder ein Teil von ihr sein. Sie durfte nur nicht so weitermachen wie gestern und vorgestern. Wenn ihre Erinnerung sie im Stich ließ, musste sie eben Nachforschungen anstellen – mit Seestädtern sprechen und Fragen stellen. Damit würde sie unweigerlich Spuren hinterlassen, aber es blieb ihr nichts anderes übrig, als dieses Risiko einzugehen. Sie konnte nur hoffen, dass wenige Fragen an wenige Seestädter reichen würden. Und dass ihre Fragen uninteressant genug wären, um sofort wieder vergessen zu werden. Mit plötzlicher Entschlossenheit stand Tishanea auf. Wozu war sie überhaupt durch die Straßen gewandert? Ihre Eltern gehörten zur Zunft der Fischer. Fischer suchte man im Hafen. Oder gleich im Zunfthaus der Fischer, das natürlich ebenfalls am Hafen lag. Tishanea eilte zurück ins Hafenviertel und fand das Zunfthaus ohne Mühe – ein solider, einfacher Steinbau, über dessen Tür weithin sichtbar das Zunftzeichen der Fischer hing: Ein Netz mit zwei gekreuzten Angelruten darüber. Nun hieß es warten. Die Sonne stand noch hoch am Himmel. Erst in einigen Stunden würden die Fischer von ihrem Tagewerk auf See oder im Flussdelta zurückkehren. Um sich die Zeit zu vertreiben, kaufte Tishanea in einer Hafenschenke eine Portion gekochte Muscheln. Kauend suchte sie einen Platz auf der Kaimauer, der es ihr erlauben würde, sowohl das Zunfthaus als auch die Hafenpromenade im Auge zu behalten. Selbst wenn sie lange Zeit hier sitzen blieb, würde sie kaum auffallen. Im Hafen gab es viele Wasserhafte, die nichts anderes zu tun hatten, als auf irgendetwas oder auf irgendjemanden zu warten. Tishanea begann sich auf ihrem Posten immer wohler zu fühlen, bis sie eine Frau und einen Mann aus dem Zunfthaus kommen sah. Die beiden steuerten so zielstrebig in ihre Richtung, dass die Muscheln in Tishaneas Magen wieder lebendig zu werden schienen. Doch in einigen Fischlängen Entfernung blieben die Seestädter schließlich stehen. Sie machten sich daran, ihre Pfeifen mit getrocknetem Seegras zu stopfen. Keiner der beiden warf auch nur einen Seitenblick auf Tishanea. Die Wasserhafte atmete auf und handelte sich damit beinahe einen Hustenanfall ein. Dicke Rauchschwaden trieben auf sie zu. Tishanea war drauf und dran, ihren Platz zu räumen. Der beißende Geruch von Seetabak war ihr schon immer ein Gräuel gewesen. Nur die erboste Stimme der rauchenden Seestädterin hielt sie fest:

„Das Haus des Dreihandels wird immer ungeheuerlicher – wie alles dort oben auf dem Mittleren Grund! Schikane über Schikane! Es ist schlimm genug, dass sie glauben, uns vorschreiben zu können, wie viel Fisch wir an die Händler auf dem Mittleren Grund liefern müssen – noch dazu, wo die Händler den Großteil der Ware nach Erdstadt und nach Felsstadt weiterverkaufen! Und jetzt drohen sie auch noch, Inspektoren nach Seestadt zu schicken, weil sie verhindern wollen, dass wir die schlechtere Ware auf den Mittleren Grund liefern und den besten Fisch für die Seestädter behalten!“

Ihr Gegenüber zog sein mageres Gesicht noch länger und tippte mit einem seespinnenbeindürren Finger gegen seine Schläfe. „Wie können sie von uns erwarten, dass wir den besten Fisch auf den Mittleren Grund liefern? Die Erdhaften und die Felshaften verkaufen doch auch ihren Abfall. Oder kannst du dir vorstellen, dass das Getreide, das in Seestadt verkauft wird, das beste sein soll? Dann will ich nicht wissen, welchen Fraß die Dreckwühler in sich hineinstopfen!“

Die Frau strich über ihren aufgesteckten Zopf und zog gierig an ihrer Pfeife. „Der Punkt ist doch, dass das Haus des Dreihandels das jetzt nicht mehr durchgehen lassen will. Wenn die Qualität der Lieferungen nicht besser wird, schicken diese Gleichheitsfanatiker am Ende wirklich Inspektoren nach Seestadt “

„Na und?“ Der Seestädter hob die schmalen Schultern. „Dann lass sie doch Inspektoren schicken. Das wird nichts ändern. Egal, was diese Inspektoren hier sehen – sie werden berichten, dass die Lieferungen korrekt abgewickelt werden und dass wir nur den besten Fisch auf den Mittleren Grund schicken. Diese Typen sind leicht einzuschüchtern. Wenn sie mehr Rückgrat hätten als ein Oktopus würden sie ja nicht im Haus des Dreihandels arbeiten – diese Abtrünnigen!“ Er spuckte verächtlich über die Kaimauer. „Vielleicht wäre es sogar besser, wenn diese Papierkapitäne mal wieder einen Fuß nach Seestadt hineinsetzen müssten. Das würde sie vielleicht daran erinnern, was ein wahrer Wasserhafter ist – und dass allein die wahren Wasserhaften den besten Fisch verdienen.“

Die Frau sah bedächtig ihren Rauchschwaden nach, bevor sie wieder sprach: „Wasserhafte Inspektoren wären vielleicht einzuschüchtern. Ich habe allerdings Gerüchte gehört, dass die Haftigkeitsbeschränkung für die Beamten vom Mittleren Grund bald aufgehoben werden könnte.“

Ein schnaubendes Lachen kam als Antwort. „Ach bitte! Ohne die Haftigkeitsbeschränkung für die drei Städten wäre es nicht einmal dieser gerissenen Mergole gelungen, die Gründung von Dreistadt durchzusetzen! Wenn plötzlich doch jeder erdhafte oder felshafte Papierkapitän nach Seestadt kommen dürfte, um hier den Inspektor zu spielen, gäbe es sofort neue Fehden! Sogar die fischköpfigsten Gleichheitsfanatiker wussten, dass ein Dreckwühler oder eine Bergziege keine Ahnung haben, wie die Wasserhaften Geschäfte machen – oder wie man gute und schlechte wasserhafte Ware auseinanderhält! Das war doch der Kern der Haftigkeitsbeschränkung – dass die drei Haftigkeiten einander nicht verstehen können! Dass sie nicht zusammenleben können! Nur die auf dem Mittleren Grund glauben, dass sich das ändern lässt. Aber sie müssten sich schon etwas ganz Neues, Gefinkeltes einfallen lassen, um plötzlich die Haftigkeitsbeschränkung aufzuheben! Und das möchte ich erst einmal sehen!“

„Die Gleichheitsfanatiker auf dem Mittleren Grund werden allzu bald glauben, dass sie einen neuen Grund für die Aufhebung der Haftigkeitsbeschränkung haben – zumindest für einige Beamte. In rund einem Jahr nämlich...“ Die Seestädterin hustete und klopfte ihre Pfeife an der Kaimauer aus. Sie genoss es offensichtlich, dass der Magere sie mit ungläubig hochgezogenen Brauen betrachtete. Um die Spannung noch zu erhöhen, ließ sie sich umständlich auf der Kaimauer nieder, bevor sie fortfuhr: „In rund einem Jahr endet die Ausbildung der Zöglinge des Hauses des dreifachen Friedens. Du weißt, was die Gleichheitsfanatiker behaupten: Dass die Zöglinge dazu erzogen werden, alle drei Haftigkeiten zu verstehen und zu respektieren – ihre eigene nicht weniger als die beiden anderen. Weil sie seit Jahren eng mit Lehrern und Zöglingen aller drei Haftigkeiten zusammenleben, sollen sie dazu fähig sein, alle Dreistädter gerecht zu beurteilen. Deshalb soll die alte Begründung der Haftigkeitsbeschränkung für die Zöglinge nicht mehr gelten. Nach Abschluss ihrer Ausbildung werden die Zöglinge in allen Behörden des Mittleren Grundes arbeiten – auch im Haus des Dreihandels. Sei dir also nicht zu sicher, dass nicht irgendwann eine Bergziege oder ein Dreckwühler Seestadt betreten darf, um die Ware unserer Fischer zu begutachten.“

„Das Haus des dreifachen Friedens!“ stieß der Wasserhafte verächtlich hervor. „Das ist nun wirklich der abscheulichste Auswuchs des Mittleren Grundes! Wenn auch nur einer von diesen Gleichheitsfanatikern ernsthaft glaubt, dass wir Seestädter jemals diese Zöglinge akzeptieren werden, kann er sich jetzt schon auf den größten Irrtum seines Lebens vorbereiten! Und dabei spielt die Haftigkeitsbeschränkung gar keine Rolle! Seestadt wird nicht einmal die wasserhaften Zöglinge dulden – sie sind nämlich keine Wasserhaften mehr! Sie kennen gar keine Haftigkeit – sie sind blinde, lose Strudelwürmer!“

Vor lauter Entsetzen vermochte Tishanea ihren Blick nicht von dem Seestädter abzuwenden. Zum Glück klopfte er bereits seine Pfeife aus, um zum Zunfthaus zurückzukehren. Andernfalls hätte er ihr Starren bemerkt und zweifellos unangenehme Fragen gestellt – Fragen, die Tishanea jetzt noch weniger beantworten wollte als vor einer Stunde. Der Hass des Wasserhaften auf das Haus des dreifachen Friedens hatte sie noch mit grimmiger Genugtuung erfüllt. Doch der Hass auf die Zöglinge war wie ein Schlag gekommen. Während ihrer unerträglichsten Stunden im Haus des dreifachen Friedens hatte Tishanea nur in einer Gewissheit Trost gefunden: Dass die Seestädter voller Mitgefühl an die wasserhaften Zöglinge dachten, und dass sie ihre verlorenen Töchter und Söhne mit offenen Armen aufnehmen würden, sobald sie ihrem Kerker entkämen. Diese Gewissheit war von den Worten des Seestädters fortgeschwemmt worden. Dachten alle Seestädter so? Auch diejenigen, die ein Kind an das Haus des dreifachen Friedens verloren hatten? Wie in Trance stand Tishanea auf und wanderte davon. Der Wunsch, sich so weit wie möglich vom Zunfthaus zu entfernen, trieb sie tief in die Floßviertel. Irgendwann holte ein durchdringender, quer über den Floßpfad tönender Ruf sie zurück in die Gegenwart:

„Seid ihr heute gar nicht hinausgefahren, Rabess? Ich dachte, euer Segel wäre inzwischen repariert!“

Tishanea erstarrte mitten im Schritt. Rabess? Ihre Mutter hieß Rabess! Fieberhaft sah Tishanea sich auf dem beinahe leeren Floßpfad um. An einem Fenster links von ihr entdeckte sie eine Seestädterin, die sich neugierig hinauslehnte. Tishanea folgte ihrem Blick zu einem Haus auf der rechten Seite. Dort, halb verborgen im Türrahmen, stand eine zweite Frau. Sie hob gerade den Kopf, um ihrer Nachbarin zu antworten:

„Das Segel ist auch repariert. Aber nachdem wir das Segel abnehmen mussten, wollte Goschub gleich die ganze Takelage gründlich prüfen. Wir werden morgen wieder auf Fischzug gehen.“

Obwohl die Stimme vertraut klang, wagte Tishanea es zunächst nicht, ihren Ohren zu trauen. Erst der Name ihres Vaters wusch allen Zweifel beiseite. Im nächsten Moment schien auch das Haus einen Tarnmantel abzustreifen. Diese Sturmlaterne über der Tür, das Fischgrätenmuster der Fensterläden – mit einem Mal erkannte Tishanea alles wieder. Wie verankert blieb sie stehen, gefangen in einem wilden Gefühlsstrudel.

Rabess winkte ihrer Nachbarin zum Abschied und bückte sich nach einer Fischreuse, die neben der Tür lag. Als sie sich wieder aufrichtete, glitt ihr Blick flüchtig zu Tishanea hinüber. Ungerührt setzte Rabess dazu an, die Tür hinter sich zuzuziehen. Dann blieb ihr die reglos starrende Wasserhafte doch nicht gleichgültig. Mit einem resoluten Stirnrunzeln trat Rabess hinaus auf den Floßpfad.

„Kann ich irgendwie helfen?“

Hilflos versank Tishanea im Anblick ihrer Mutter. Wie sehr sie dieses Gesicht vermisst hatte! Diese blaugrünen Augen mit den Wimpern, die etwas heller waren als die drei seetanggrünen Zöpfe auf Rabess’ Rücken. Und wie sehr es schmerzte, die Spuren der verlorenen zwölf Jahre auf diesem Gesicht zu sehen! Die Haut ihrer Mutter war stärker von Sonne und Seeluft gegerbt. Aus ihren Zöpfen lugten weiße Fäden hervor. Die Umrisse ihres Gesichts und ihres Körpers waren noch genauso kräftig, aber schärfer als früher.

Rabess musterte Tishanea mit wachsendem Verdruss, bis plötzliche Unruhe in ihren Augen aufblitzte. Ihre Züge verhärteten sich. Beinahe drohend ging Rabess auf Tishanea zu. „Wer bist du?“

Tishaneas Kehle wurde eng. Zwölf Jahre mochten eine lange Zeit sein, und zweifellos hatte sie sich noch stärker verändert als ihre Mutter. Aber Rabess musste doch erkennen, wie ähnlich sie ihr sah – die gleiche Nase, der gleiche Mund, das gleiche Kinn. Hatte sie ihre Tochter nicht schon erkannt? Warum zögerte sie also?

„Ich bin es, Mutter – Tishanea...“

Die Härte wollte nicht von Rabess’ Gesicht verschwinden. Die Wasserhafte wich sogar einen Schritt zurück, und ihre Augen verschmälerten sich. Genau so hatte der dürre Seestädter vor dem Zunfthaus der Fischer ausgesehen. Ein Wellenbrecher der Verzweiflung riss Tishanea mit sich.

„Ich... ich sollte ins Haus des dreifachen Friedens gebracht werden,“ hörte sie sich plötzlich stammeln. „Aber ich konnte mich noch in Seestadt befreien. Um den Friedenslehrern endgültig zu entkommen, versteckte ich mich im Hafen auf einem Schiff – auf einem Flusshandelsschiff. Natürlich wurde ich bald entdeckt und im nächsten Hafen von Bord geworfen – wie jeder blinde Passagier. In Zweimündung musste ich einige Zeit als Bettlerin auf der Straße leben. Dann wurde ich von einer Familie aufgenommen, als Dienerin. Jetzt bin ich nach Dreistadt zurückgekehrt, um... um meine Familie wiederzufinden.“

Tishaneas Knie drohten nachzugeben. Sie wusste nicht, ob sie von ihrer Verzweiflung niedergedrückt wurde, oder von der Überraschung über ihre eigenen Worte. Aber was kümmerten sie ihre Knie, solange ihre Augen auf Rabess’ Gesicht nach einem Funken Wärme und Freude forschten! Der Funke blieb aus, aber zumindest rückte ihre Mutter wieder näher. Zuletzt schüttelte Rabess den Kopf.

„Das ist zu viel für mich allein,“ sagte sie tonlos. „Komm mit.“

Rabess schritt an ihrer Tochter vorbei, den Floßpfad hinunter. Tishanea musste ihren Körper dazu zwingen, ihrer Mutter zu folgen. Die Lüge brannte auf ihrer Zunge, als hätte sie eine Qualle verschluckt. Wie hatte sie nur Schuracs Lügengeschichte erzählen können! Welche wasserhafte Mutter würde eine Tochter haben wollen, die vor ihren Feinden floh statt sich ihnen zu stellen? War ein Leben als Bettlerin und Dienerin nicht sogar schlimmer als ein Leben im Haus des dreifachen Friedens? Wenn sie bei der Wahrheit geblieben wäre, hätte ihre Mutter bestimmt nicht so kalt reagiert – oder? Tishanea holte auf, um einen verstohlenen Blick auf Rabess’ Miene werfen zu können. Dort stand keine Härte mehr. Nur große Nachdenklichkeit und ein wenig Sorge. Und als Rabess Tishaneas Blick auffing, antwortete sie sogar mit dem Hauch eines Lächelns. Zaghafte Erleichterung und neue Unsicherheit spülten in dichten Wellen über Tishanea hinweg.

Rabess ging so schnell, dass sie die Floßviertel rasch hinter sich ließen und kurz darauf im Hafen eintrafen. Ohne das geringste Zögern steuerte Rabess einen bestimmten Pier an. Schließlich hielt sie vor einem Schiff, das gerade groß genug für den Fischfang auf hoher See war. Tishanea las den Namen, und ihr Herz machte einen Sprung. Es war tatsächlich die gute alte „Seelöwin“ – das Schiff ihrer Eltern. Oben auf der Rahe setzten zwei Männer und eine junge Frau soeben die letzten Handgriffe an einem neu aufgezogenen Segel.

„Goschub!“

Der ältere der beiden Männer hob flüchtig den Kopf. „Was gibt es, Rabess?“

„Komm herunter! Wir haben... etwas zu besprechen.“

Tishanea hörte, wie ihr Vater einige halblaute Anweisungen gab, bevor er den Mast herabkletterte. Sobald er das Deck erreichte, heftete er seinen Blick auf Tishanea und wandte ihn nicht mehr ab, bis er vor ihr auf dem Pier stand. Goschub trug immer noch einen Stoppelbart und viele, ungewöhnlich kurze Zöpfe, keiner von ihnen länger als eine Sardine. Allerdings begann die Zahl der weißen Haare die der schwarzen zu überwiegen. Um seine Augen herum hatten sich tiefe Falten eingegraben, als würde er sie oft zum Schutz vor dem Sonnenlicht zusammenkneifen. Doch aus den Augen leuchtete dasselbe klare Grün, das Tishanea sah, wenn sie in einen Spiegel blickte. Anders als Rabess betrachtete Goschub Tishanea nicht scharf oder kalt, sondern mit großer Nüchternheit. Er legte sogar seine Hand unter Tishaneas Kinn, um ihr Gesicht erst nach rechts und dann nach links zu wenden. Zuletzt hakte er beide Daumen in seinen Fellgürtel und fragte ruhig:

„Nun, Tochter? Besuchst du uns? Hat das Haus des dreifachen Friedens dich nach zwölf Jahren einmal aus seinen Klauen entlassen?“

Tishanea brachte keinen Ton hervor. Diese Ruhe war um nichts besser als die Verschlossenheit ihrer Mutter. Unter Rabess’ steinerner Miene verbargen sich vielleicht starke Gefühle. Goschubs Ruhe hingegen grenzte an Gleichgültigkeit.

„Sie sagt, dass sie nie im Haus des dreifachen Friedens war,“ antwortete Rabess an Tishaneas Stelle. „Dass sie noch in Seestadt entwischt ist. Danach gelangte sie als blinder Passagier nach Zweimündung, wo sie sich zuerst als Bettlerin und dann als Dienerin durchschlagen musste.“

Bei dem Wort „entwischt“ hob Goschub ungläubig die rechte Augenbraue. „Tatsächlich? Und erst nach zwölf Jahren kehrst du nach Seestadt zurück? Warum so spät?“

„Wie hätte ich denn früher kommen können?“ brachte Tishanea mühsam hervor. „Ich konnte doch nicht weg...“

„Weil du eine Dienerin warst?“ Immer noch schwebte die skeptische Braue hoch über Goschubs Auge.

Tishanea nickte so zögerlich wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Es half nichts, das Schiff war vom Stapel gerollt. Ihr Vater verzieh keine Lügen. Sie musste bei dem bleiben, was sie Rabess gesagt hatte. „Ich hatte kein Geld für die Fahrt nach Seestadt. Die Familie, die mich aufnahm, bezahlte mich lange nicht. Erst nachdem ich sechzehn wurde, bekam ich Lohn – und nur sehr wenig...“

Goschub blieb unbeeindruckt. „Und was tut diese Familie?“

„Sie führt eine kleine Schule.“

Die linke Braue gesellte sich eine Stufe höher zur rechten. „Du hast also ein Leben als Zögling in einer Schule gegen ein Leben als unbezahlte Dienerin in einer anderen Schule eingetauscht? Das war es wert? Dafür bist du entwischt?“

Plötzlich schäumte unbändige Wut in Tishanea hoch. Hatte Goschub nie einen Gedanken daran verschwendet, wie grausam das Leben eines Zöglings im Haus des dreifachen Friedens sein musste – wie grausam das Leben seiner eigenen Tochter sein musste?

„Warum sollte es das nicht wert gewesen sein?“ fauchte Tishanea. „Alles ist besser als das Haus des dreifachen Friedens! Oder wäre es dir lieber gewesen, wenn ich zwölf Jahre lang auf dem Mittleren Grund eingesperrt gewesen wäre? Wenn mir die Friedenslehrer zwölf Jahre lang ihre Lektionen über das gemeinsame Leben der drei Haftigkeiten in Dreistadt eingehämmert hätten? Wenn ich von Felshaften und Erdhaften erdrückt worden wäre, bis ich nicht mehr gewusst hätte, was ,wasserhaft’ eigentlich bedeutet?“

Als Tishanea zu toben begann, glomm ein amüsiertes Funkeln in Goschubs Augen auf. Am Ende stand ein breites Lächeln auf seinem Gesicht. „Ja, so kenne ich mein kleines Fischkätzchen – mit ungebrochenem Eigensinn, ganz wie ihr Vater.“

Völlig verwirrt starrte Tishanea Goschub an. Diesen Umbruch von kalter Gleichgültigkeit zu Wohlwollen konnte sie nicht so schnell fassen. War etwa alles nur ein Scherz gewesen, oder ein Test?

„Wer ist das, Vater?“

Inzwischen war auch der jüngere Mann – kaum mehr als ein Halbwüchsiger – von der Rahe herabgeklettert und blickte neugierig über die Schiffsreling.

„Deine Schwester Tishanea,“ gab Goschub unverblümt zurück.

„Wirklich?“ Nun kannte ihr Bruder kein Halten mehr. Schirron raste die Laufplanke hinunter und bremste sich gerade noch rechtzeitig ein, bevor er mit Tishanea zusammenstieß. „Tut mir Leid, dass ich dich nicht erkannt habe – aber ich kann mich nicht wirklich an dich erinnern.“

„Du warst ja auch erst vier Jahre alt, als ich... von zu Hause weggeholt wurde.“

Erstaunt stellte Tishanea fest, dass sie ihren Bruder anlächelte. Schirrons Grinsen war einfach zu ansteckend. Auf seiner Miene stand nichts anderes als lebendiges, freundliches Interesse. Dieser Ausdruck erinnerte Tishanea an ihre Mutter in früheren Jahren, obwohl Schirron Goschub stärker ähnelte als Rabess.

„Riesche, komm her!“ Schirron winkte der Frau, die soeben den Mast hinunterkletterte. „Es ist Tishanea!“

Riesche gab sich ebenso unbeteiligt wie Schirron aufgeregt war. Sie blieb auf Deck und ließ ihren Blick von oben auf Tishanea ruhen. „Ja, ich entdecke einige Ähnlichkeiten mit der lästigen kleinen Schwester, die plötzlich fort war.“

„Tishanea ist nur ein Jahr jünger als du,“ protestierte Schirron. „So klein und so lästig kann sie also nicht gewesen sein!“

„Stimmt.“ Riesche stützte die Ellbogen auf die Reling und das Kinn in eine Hand. „Du warst viel kleiner und viel lästiger.“

Der lästige kleine Bruder grinste. „Dann pass besser auf, dass Tishanea und ich uns nicht gegen dich verbünden.“

„Ach, bleibt sie bei uns?“ Kaum weniger gleichgültig als zuvor wandte Riesche sich ihren Eltern zu.

Rabess wechselte einen Blick mit Goschub. Tishanea hielt den Atem an und grub ihre Fingernägel in die Handflächen.

„Nun, sie ist jetzt in Seestadt,“ meinte Rabess. „Und wenn sie in Seestadt ist, wohnt sie natürlich auch bei uns.“

Nach wie vor fehlte die ersehnte Wärme in Rabess’ Stimme. Aber zumindest klang sie entschlossen. Tishanea wagte es, aufzuatmen. Sie konnte nach Hause gehen. Alles andere würde sich finden.


Im ersten Tageslicht gab Tishanea auf. Mehr als ein kurzer, unruhiger Dämmerschlaf war ihr in dieser Nacht nicht vergönnt gewesen. Obwohl sie in einer Hängematte im Dachzimmer ihres Elternhauses lag – oder vielmehr, weil sie in einer Hängematte im Dachzimmer ihres Elternhauses lag. Das ständige Knarren des Holzhauses war ihr fremd und sie spürte selbst die leiseste Bewegung des Wassers der Seestädter Bucht unter dem Floß. Aber daran würde sie sich bald gewöhnen. Schließlich war sie eine Wasserhafte. Und sie würde sich solange als Mitglied ihrer Familie bewähren, bis es egal wäre, wo sie die vergangenen zwölf Jahre verbracht hatte. Dann würde sie das Haus des dreifachen Friedens endlich vergessen können. Langsam traten die Umrisse der Möbel aus dem Dämmerlicht hervor. Tishanea betrachtete sie halb wehmütig, halb dankbar. Anders als die übrigen Räume ihres Elternhauses schien dieses kleine Zimmer unverändert zu sein. Neben dem Fenster wurde ein aus Schilfhalmen geflochtener Sessel mit einem Polster aus Seelöwenfell sichtbar. Eine kleine Kommode mit einem Muster aus eingeschnitzten Fischschuppen stand in der Ecke. Darüber hing ein Bord, auf dem sich einige alte, viel gelesene Bücher aufreihten. Alles sah so aus, als würde Großmutter gleich zur Tür hereinkommen. Doch seit dem vergangenen Abend wusste Tishanea, dass ihre Großmutter vor drei Jahren gestorben war. Nur dieser bittere Verlust erlaubte es ihr, allein in einem vertrauten Zimmer zu liegen. Als Kind hatte Tishanea sich einen größeren Raum mit Riesche geteilt. Für zwei Erwachsene und nach zwölfjähriger Entfremdung wäre dies nicht mehr gut gegangen. Riesche hätte sich mit Recht dagegen gewehrt, ihrer plötzlich wieder aufgetauchten Schwester Platz zu machen. Und auch Tishanea fühlte sich bereits bei dem Gedanken beengt, in einem Raum mit Riesche schlafen zu müssen. So eng die Zöglinge im Haus des dreifachen Friedens auch zusammenlebten – seinen eigenen Schlafraum hatte jeder von ihnen gehabt.

Als Tishanea Knarren vernahm, das nicht allein vom Haus verursacht wurde, stand sie auf, um in die Wohnküche hinunterzugehen. Goschub kniete vor der gemauerten Feuerstelle und schürte die neu entzündeten Flammen. Beim Klang von Tishaneas Schritten blickte er kurz über seine Schulter.

„Noch immer eine Frühaufsteherin? Gut.“ Er spießte einige Seegurken auf und platzierte sie über dem Feuer. Dann erst wandte er sich Tishanea zu. „Du kommst heute mit auf Fischzug?“

Tishanea nickte erleichtert. Goschub hatte ihr genau die Antwort in den Mund gelegt, die sie geben wollte. Eine schwammigere Frage hätte sie gewiss in irgendwelche Verlegenheit gestürzt.

„Ich weiß nur nicht, ob ich bei Seegang noch aufrecht auf Deck stehen kann. Ich fürchte, ich werde keine große Hilfe sein.“

Goschub winkte ab. „Den Seegang hast du bald wieder in den Beinen. Genauso wie du die Fischerei bald wieder im Kopf und in den Armen haben wirst. Schließlich bist du meine Tochter – eine wahre Wasserhafte.“ Er legte die wenigen Schritte zurück, die ihn von Tishanea trennten, und schlug ihr auf die Schulter.

Aus nächster Nähe schien Goschub plötzlich viel zu klein zu sein. Und er war sehr schlank, fast mager. Wieder schoss schlagartig das Bild des dürren Seestädters am Zunfthaus durch Tishaneas Kopf. „Seestadt wird nicht einmal die wasserhaften Zöglinge dulden,“ hallte es in ihren Ohren. „Sie sind nämlich keine Wasserhaften mehr. Sie kennen gar keine Haftigkeit, sie sind blinde, lose Strudelwürmer!“ Tishanea fühlte, wie sie blass wurde.

„Alles in Ordnung?“

Es kostete Tishanea ihre ganze Überwindung, Goschub in die Augen zu schauen. Als es ihr gelang, war sie überrascht. Er musterte sie zwar forschend, aber ohne Strenge. Sein Blick flackerte nicht und durchbohrte sie nicht von oben herab, um sie seinem Willen zu unterwerfen. Tishanea musste ihren Kopf nicht in den Nacken legen, um ihrem Vater ins Gesicht sehen zu können. Sofort verstand sie, wo ihr Problem lag – Schurac. Zwölf Jahre lang hatte sie keinen anderen wasserhaften Mann vor Augen gehabt als diesen Riesen. Die beiden anderen wasserhaften Friedenslehrer waren Frauen, und in ihren wasserhaften Mitzöglingen sah Tishanea immer noch Kinder. Alle übrigen Wasserhaften auf dem Mittleren Grund hatte sie keines Blickes gewürdigt. Sie war nie sicher gewesen, ob diese Wasserhaften auf dem Mittleren Grund lebten oder ob sie aus Seestadt kamen. Und weil sie keinen Wasserhaften begegnen wollte, die lieber auf dem Mittleren Grund lebten als in Seestadt, hatte sie alle gemieden. Auf diese Weise musste sie jedes Augenmaß für wasserhafte Männer verloren haben. Ihr Vater war nicht klein, sondern normal groß, und er war nicht mager, sondern sehnig. Er sah diesem Seestädter gestern am Zunfthaus nicht im Geringsten ähnlich. Und dieser Seestädter wusste nicht das Geringste über sie. Sie war kein blinder, loser Strudelwurm. Sie war eine Wasserhafte.

„Ja, alles in Ordnung.“ Tishanea rang sich ein Lächeln ab. „Ich habe nur Hunger.“

„Dieses Problem lässt sich rasch beheben.“ Goschub nahm einen Stapel Teller aus dem Küchenregal und drückte ihn Tishanea in die Hände. „Das Frühstück wird gleich fertig sein. Deck schon einmal den Tisch.“


Wie befürchtet fühlte Tishanea sich unsicher auf den Beinen, sobald die „Seelöwin“ das offene Meer erreichte. Nachdem sie Riesches ironischem Lächeln begegnet war, wich Tishanea Goschubs und Rabess’ Blicken aus. Sie wollte weder Belustigung noch Mitgefühl auf den Gesichtern ihrer Eltern sehen – und Zweifel schon gar nicht. Nur ihrem Bruder konnte sie nicht entgehen. Schirron tippte ihr auf die Schulter.

„Tisha?“

Tishanea wappnete sich für eine gut gemeinte, aber unerwünschte Erkundigung nach ihrem Befinden und wandte sich zu ihm um.

Schirron wies auf ein Bündel Fischernetze im Bug der „Seelöwin.“ „Kannst du mir helfen, diese Netze zu überprüfen und – wenn Löcher drin sind – zu reparieren?“

Nichts hätte Tishanea lieber getan, als sich bei einer Arbeit nützlich zu machen, die sie sitzend verrichten konnte. „Ja – natürlich.“

Sie folgte ihrem Bruder zum Bug und ließ sich mit gekreuzten Beinen nieder. Anfangs sah sie mehr auf Schirrons Finger statt auf das Netz in ihren eigenen Händen. Endlich erinnerte sie sich an die richtigen Knoten und konnte ernsthaft zu arbeiten beginnen.

„Was für Schiffe gibt es in Zweimündung?“ platzte Schirron nach einer Weile heraus.

Tishanea fuhr zusammen und riss beinahe ein weiteres Loch in ihr Netz. „Äh... in Zweimündung laufen zwei kleinere Flüsse in den Großen Strom – wie der Name schon sagt. Es gibt also alle möglichen Boote für die Flussschifffahrt, größere und kleinere... Ich hatte nie viel Gelegenheit dazu, die Schiffe im Hafen anzusehen. Wieso fragst du?“

„Ach, nur so...“ Schirron winkte ab.

Plötzlich fand Tishanea es schwer, ihre Finger dazu zu bewegen, Schnüre abzutasten und Knoten zu schlingen. Wollte ihr Bruder ihr Wissen über Zweimündung testen? Bezweifelte ihre Familie bereits, dass sie dort gelebt hatte?

Viel leiser als zuvor fuhr Schirron schließlich doch fort: „Ich habe gehört, dass es in Zweimündung eine Werft gibt, die mit einem neuen Schiffstyp experimentiert. Diese Schiffe sollen besonders leicht zu rudern sein. Ich interessiere mich sehr für den Schiffsbau, weißt du...“

Tishaneas Finger gehorchten ihr wieder. Unendlich erleichtert nahm sie den Faden auf: „Warum beginnst du dann keine Lehre in einer Werft? Vater und Mutter haben immer gesagt, dass wir nicht unbedingt Fischer werden müssen – zumindest als wir noch klein waren. Am Ende kann sowieso nur einer von uns drei die ,Seelöwin’ übernehmen.“

„Nein, es ist nicht so, dass ich unbedingt Fischer werden soll...“ Schirron seufzte. „Es ist aus einem anderen Grund schwierig. Vater möchte nicht, dass ich eine Lehre in einer Werft beginne, weil das meiste Holz, das in Dreistadt für den Schiffsbau verwendet wird, von den Erdhaften geschlägert und verkauft wird. Und weil fast alle Metallteile von den Felshaften gemacht werden. Vater will nicht, dass ich einen Beruf habe, bei dem so viel von der Arbeit der Erdhaften und Felshaften abhängt.“

„Was glaubt er denn, wo das Holz und die Nägel für die ,Seelöwin‘ hergekommen sind?“ wollte Tishanea wissen. Im nächsten Moment presste sie erschrocken ihre Lippen aufeinander. Solch bissigen Ton hatte sie sich vielleicht im Haus des dreifachen Friedens erlauben können. Dort war schließlich allen egal gewesen, wie sie sich fühlte. Doch Goschub wollte das Beste für sie, also schuldete sie ihm Respekt.

Schirron schien nichts dabei zu finden und hob die Schultern. „Die ,Seelöwin’ ist schon ein recht altes Schiff. Vielleicht wurde das Holz für ihren Bau noch von Wasserhaften geschlägert. Früher war das Flussufer ja noch nicht so stark gerodet wie heute. Weiter flussaufwärts – in Zweimündung und in anderen Städten – fällen die Wasserhaften immer noch selbst. Wenn wir Holz für Reparaturen brauchen, kauft Vater welches aus Zweimündung. Obwohl es viel teurer ist als das Holz aus Dreistadt.“ Er schüttelte sanft den Kopf. „Ich habe schon überlegt, ob ich eine Lehre in Zweimündung beginnen soll. Aber das wäre wieder Mutter nicht recht. Und ich wäre auch nicht wirklich glücklich damit. In Zweimündung werden nur Flussschiffe gebaut, und ich will auch Seeschiffe bauen. Das kann ich nur in Seestadt tun – oder in Städten, die noch viel weiter weg liegen als Zweimündung. Dabei wäre es mir eigentlich schon nach Zweimündung zu weit. Ich möchte in Seestadt bleiben.“

Tishanea wusste nicht, was sie sagen sollte. Goschubs Einwände gegen Schirrons Traum gefielen ihr nicht. Dann kam das Holz für die Schiffe eben aus Erdstadt, und die Metallteile aus Felsstadt – und? Dafür aß ganz Dreistadt Seestädter Fisch, verwendete Körbe aus Seestädter Schilf und machte seine Nahrung mit Seestädter Meersalz haltbar. Sogar vor der Gründung von Dreistadt hatten die Wasserhaften, Erdhaften und Felshaften miteinander Handel getrieben. Wieso sollte also dieser Handel Schirron daran hindern, sein Glück zu finden? Am liebsten hätte Tishanea ihren Bruder dazu ermuntert, sich nicht von Goschub aufhalten zu lassen. Aber gleichzeitig schreckte sie davor zurück, so kurz nach ihrer Rückkehr Unfrieden zu stiften. Zuletzt flüchtete Tishanea in eine Richtung, in der keine Uneinigkeit lauerte:

„Es ist wirklich keine schöne Vorstellung, in einer anderen Stadt leben zu müssen.“

„Eine Vorstellung?“ Schirron lachte. „Für dich ist es doch mehr als eine Vorstellung! Erzähl mir etwas von Zweimündung! Vielleicht wäre es doch nicht so schlimm, dort eine Lehre zu machen – auch wenn ich dann nur Flussschiffe bauen würde.“

Tishaneas Finger krampften sich in das Netz. Der Fluchtversuch hatte sie in noch gefährlichere Gewässer geführt. Fieberhaft suchte Tishanea nach einem Ausweg.

„Das Meer fehlt einfach, Schirron.“ Zumindest hatte ihr im Haus des dreifachen Friedens das Meer am meisten gefehlt – abgesehen von ihrer Familie natürlich. „Und ohne Familie... Weißt du, am liebsten würde ich die Zeit in Zweimündung einfach vergessen.“

Schirron wiegte nachdenklich den Kopf. „Das spricht echt nicht für Zweimündung. Wenn du alle zwölf Jahre dort vergessen willst, ist es wirklich besser, ich bleibe zu Hause – und Fischer.“

Tishanea wand sich innerlich. Ihre Lügen durften Schirron nicht beeinflussen. Er sollte seine Entscheidungen völlig frei treffen können – so frei, wie sie nie gewesen war.

„Schirron – die letzten zwölf Jahre waren wirklich eine schwere Zeit für mich. Aber das hatte nichts mit der Stadt zu tun, in der ich lebte – sondern damit, wie ich dort leben musste! Ich war völlig abhängig von fremden Leuten, die mich herumkommandieren konnten, und die darüber bestimmten, wohin ich gehen durfte und wohin nicht. Ein solches Leben macht jede Stadt unerträglich – sogar die eigene Heimatstadt. Für jemanden, der nach Zweimündung geht, um sich dort einen Traum zu erfüllen, sieht die Stadt bestimmt völlig anders aus. Wenn du wissen willst, ob du in einer Werft in Zweimündung glücklich sein würdest, musst du selbst hinfahren!“

Für einen Moment saß Schirron sprachlos, dann kratzte er sich den Kopf. „Irgendetwas müssen die in Zweimündung trotz allem richtig gemacht haben – mit dir, meine ich. Obwohl du Zweimündung hasst, glaubst du immer noch, dass andere die Stadt schön finden könnten. Und obwohl du dich die ganze Zeit nach Seestadt gesehnt hast, bist du nicht davon überzeugt, dass ein Leben hier auf jeden Fall ein großartiges Leben sein muss. Das ist eine ganz andere Sicht als die der meisten Leute.“ Schirron vollführte eine vage Geste, die Goschub, Rabess und Riesche einschloss. „Dabei kennen diese Leute meistens nichts anderes als ihre Heimatstadt... Du erinnerst mich an Assoran – einen meiner früheren Lehrer. Er hat mindestens fünf wasserhafte Städte bereist und war sogar in einigen erdhaften und felshaften Städten – natürlich nicht in Erdstadt und Felsstadt, obwohl sie direkt vor unserer Nase liegen. Dort darf ja wegen der Haftigkeitsbeschränkung kein Wasserhafter rein. Jedenfalls mahnte Assoran uns immer, dass wir nichts beurteilen sollten, was wir nicht mit eigenen Augen gesehen haben.“

Ohne jeden Zweifel meinte Schirron den Vergleich mit diesem Assoran als Kompliment. Trotzdem vermochte Tishanea sich nicht darüber zu freuen. Ein Wasserhafter, der erdhafte und felshafte Städte besuchte – das klang zu sehr nach einem Mann, den die Friedenslehrer als leuchtendes Beispiel für ein friedliches Zusammenleben der drei Haftigkeiten gepriesen hätten. Wenn ihre Worte Schirron an einen solchen Mann erinnerten, hatte sie wohl mehr aus dem Haus des dreifachen Friedens mitgenommen als ihr lieb sein konnte. Einen solchen Mann würde Goschub gewiss keinen „wahren Wasserhaften“ nennen.

„Eigentlich ging es mir um etwas anderes,“ knurrte Tishanea. „Nämlich darum, dass man sich von niemandem zu irgendetwas zwingen lassen sollte.“

„Wo liegt der Unterschied? Schließlich heißt das auch, dass man sich nicht dazu zwingen lassen sollte, die Urteile anderer Leute zu übernehmen.“ Schirron grinste und stand auf, weil Goschub ihm ein Zeichen machte, den Anker zu werfen.


Angewidert betrachtete Tishanea ihre Handflächen. Sie waren von Schnittwunden übersät. Die scharfen Schnüre der Fischernetze hatten wie Messer durch die dünne Haut geschnitten. Rabess stellte eine Schüssel vor Tishanea ab.

„Hier, halte deine Hände in diesen Sud. Das wird helfen.“

Der scharfe Geruch weckte unangenehme Erinnerungen an eine böse Schürfwunde, die Tishanea sich zugezogen hatte, als sie zum ersten Mal bis zur Mastspitze hinaufgeklettert war. Vorsichtshalber biss sie gleich die Zähne zusammen, bevor sie ihre Hände in die Flüssigkeit tauchte. Es brannte wie hundert Quallen.

„Und du hast dir Sorgen über deinen Decksschritt gemacht,“ spöttelte Goschub über den Tisch hinweg. „Dabei sind deine zarten Gelehrtenhände das Problem.“

Tishanea starrte in die Schüssel. Wieso „Gelehrtenhände“? Meinte ihr Vater, dass die Hornhaut auf den Händen einer Hausdienerin dick genug sein müsste, um einem Fischernetz standzuhalten? Ahnte er etwas?

„Ein wenig Gelehrsamkeit täte dieser Familie ganz gut,“ meinte Rabess beiläufig. „Hornhaut gibt es bereits mehr als genug.“

Goschub schnaubte. „Nur weil Tishanea die Hände einer Gelehrten hat, heißt das noch lange nicht, dass sie auch Gelehrsamkeit im Kopf hat. Schließlich war sie in ihrer Schule eine Dienerin und keine Schülerin.“

Noch bevor Tishanea sich beruhigen konnte, weil ihr Vater die Geschichte über ihren Dienst glaubte, stürzte Rabess sie in neue Aufregung:

„Trotzdem hat Tishanea zweifellos vieles aufgeschnappt. Vielleicht versuchst du zur Abwechslung, herauszubekommen, was deine Tochter weiß und kann, statt darauf herumzureiten, dass sie nicht schon wieder eine Fischerin ist?“

Der Sud in der Schüssel schlug leise Wellen, obwohl Tishanea angestrengt versuchte, ihre Hände vom Zittern abzuhalten. Es rührte sie, dass ihre Mutter sie verteidigte und mehr über sie erfahren wollte. Aber Fragen über ihr früheres Leben dräuten wie ein zersplitterter, schwankender Schiffsmast über ihr!

„Sie ist da, weil sie ihre Familie wiederfinden wollte,“ brummte Goschub. „Sie hat ihre Familie wiedergefunden. Und wenn sie nun etwas zu ihrem Lebensunterhalt beitragen will, dann muss sie eine Fischerin sein und keine Schuldienerin. In Seestadt gibt es nämlich keine Schulen, die Schuldiener halten.“

Die gefürchteten Fragen blieb aus, der schwankende Mast hielt. Trotzdem fühlte Tishanea Bitterkeit statt Erleichterung aufsteigen. Sofort schalt sie sich dafür. Es war dumm, sich über Goschubs Teilnahmslosigkeit zu kränken, wenn er sie dadurch vor viel größerem Schaden bewahrte. Wenn es um ihre Vergangenheit ging, konnten ihre Eltern es ihr nicht recht machen. Die Lügen, die sie aus Haus des dreifachen Friedens mitgenommen hatte, standen zwischen ihnen.

„Wo ist Riesche?“ wechselte Rabess endlich das Thema. „Sie wollte mir helfen, die polierten Nautilusschalen zum Händler zu tragen. Wenn wir nicht bald aufbrechen, wird es zu spät.“

„Ich habe sie vorher mit Fjurosch gesehen. Also wird sie wahrscheinlich nicht so bald wieder auftauchen.“ Goschub lehnte sich zurück und trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte. „Sie soll Fjurosch endlich einmal zum Abendessen mitbringen. Sie trifft ihn nun schon seit Wochen fast jeden Tag, und ich will endlich wissen, was das für ein Wasserhafter ist.“

Rabess winkte ab. „Du wirst ihn schon noch kennenlernen. Sei nicht immer so ungeduldig, wenn eines deiner Kinder sich mit jemandem trifft, den du nicht kennst.“

Das Trommeln auf der Tischplatte wurde härter. „Ich will nicht wieder solchen Streit wie vor zwei Jahren wegen diesem... Wie hieß er noch – der Kerl, der Locken hatte wie ein Dreckwühler und sein Haar offen trug?“

„Schowis. Darüber brauchst du dir wirklich keine Sorgen mehr zu machen. Du weißt genau, warum Riesche sich zuletzt von Schowis trennte – weil ihr genau das zu viel wurde, was dir von Anfang an ihm missfallen hat.“

Goschub murmelte nur noch etwas Unverständliches, bevor er aufstand und die Wohnküche verließ.

Unschlüssig musterte Rabess die beiden Säcke voll polierter Nautilusschalen. Sie hob sie probeweise hoch und schüttelte den Kopf. „Sinnlos. Das Gewicht wäre ja kein Problem, aber wie soll ich mich mit diesen riesigen Säcken durch die Gassen drängen, ohne die Schalen zu beschädigen?“

„Ich kann dir helfen, die Säcke zum Händler zu bringen,“ bot Tishanea an. Ihre Hände waren vergessen, bis Rabess’ skeptischer Blick zu der Schüssel wanderte. „Das heißt – ich könnte dir helfen, falls ein Paar Handschuhe im Haus wäre, das mir passt.“


Die Handschuhe aus Fischleder halfen nur wenig. Jedes Mal, wenn die Tragschnur des Sacks sich tiefer in ihre Handflächen grub, biss Tishanea die Zähne zusammen. Sie war heilfroh, als sie bei dem Händler ankamen. Rabess wollte zwar noch für das Abendessen einkaufen, aber den Einkaufskorb konnte Tishanea über ihren Arm hängen. An der Ecke zum Hafenmarkt stieß Tishanea auf ein Denkmal, das ihr völlig fremd war. Sie hatte nicht einmal die dunkelste Kindheitserinnerung an diese übermannshohe Meereswoge, die auf kunstvoll gemeißelte Äcker, Häuser und Felsgipfel hereinstürzte. Genauso wenig kannte sie das Denkmal aus den Büchern über Seestadt, die in der Bibliothek des Hauses des dreifachen Friedens standen. Gemessen an dem strahlenden Weiß des Korallenkalks konnte es noch nicht alt sein. Langsam umrundete Tishanea den steinernen Brecher.

„Dieses Denkmal kennst du noch nicht, oder?“ Rabess lächelte stolz. „Es erinnert an die Schlacht an der Felsengrenze.“

Tishanea blieb abrupt stehen. Die Schlacht an der Felsengrenze war das letzte Gefecht der fünfjährigen Fehden gewesen. Die Wasserhaften und Felshaften hatten sie begonnen, um ein für alle Mal zu entscheiden, wer von ihnen über alle drei Haftigkeiten herrschen würde. Doch die Erdhaften waren noch nicht besiegt gewesen. Sie hatten ihre Kräfte aufgespart, um sich im richtigen Moment gegen ihre wasserhaften und felshaften Besatzer aufzubäumen. Tagelang war die Schlacht hin- und hergewogt. Keine der drei Seiten hatte die Oberhand gewinnen können.

Unwillkürlich murmelte die Tishanea die Lektion, die sie so oft im Haus des dreifachen Friedens gehört hatte: „Mehr als zweihundert Tote, dreimal so viele Verletzte, ein abgebrannter Wald, eine eingestürzte Erzgrube. Die drei Städte an der Kippe zwischen Leben und Tod.“

„Was sagst du da?“ fragte Rabess scharf.

Tishanea begann, die Worte deutlicher zu wiederholen. Doch ihre Stimme erstarb unter dem Zorn, der auf der Miene ihrer Mutter aufbrandete.

„Das wird in Zweimündung über die Schlacht an der Felsengrenze gelehrt?“ Rabess stemmte entrüstet die Hände in die Hüften. „Großer Himmelsblauwal! Das ist ungeheuerlich! Die Zweimündner sollten es wirklich besser wissen! Natürlich sind viele gefallen – auch einige unserer größten wasserhaften Helden! Aber es standen doch nicht alle drei Städte an der Kippe! Nur Erdstadt und Felsstadt! Mit der Schlacht an der Felsengrenze haben wir die Erdhaften und die Felshaften zu Friedensverhandlungen gezwungen! Denn nach dieser Schlacht wussten sie, dass Friedensverhandlungen ihre einzige Rettung waren! Vielleicht hätten wir gerade deshalb bis zum Ende weiterkämpfen sollen! Der Friedensschluss hat uns Wasserhafte viel gekostet – womöglich zu viel! Aber die Schlacht an der Felsengrenze war ein großer Sieg! Ich kann nicht glauben, dass du dich nicht mehr an die Feiern danach erinnerst – du warst doch damals schon sechs Jahre alt!“

Tishanea konnte sich an nichts erinnern, was auch nur entfernte Ähnlichkeit mit einer Siegesfeier besessen hätte. Sie erinnerte sich nur an die Mischung aus Entsetzen, Erleichterung, Trauer und Zorn, die am Ende der fünfjährigen Fehden in den Worten und auf den Mienen der Erwachsenen gelegen war. Erleichterung darüber, dass der Krieg vorüber war. Entsetzen und Trauer über die vielen toten Wasserhaften. Zorn, weil es den Seestädtern nicht gelungen war, die Oberhand über Felsstadt und Erdstadt zu erlangen. Die Schlacht an der Felsengrenze musste auch die Wasserhaften an das Ende ihrer Kräfte gebracht haben. Sonst wären sie nie bereit gewesen, die Fehden zu beenden und zuletzt sogar der Vereinigung von Seestadt, Erdstadt und Felsstadt zu Dreistadt zuzustimmen. Wie konnte es also sein, dass diese steinerne Woge symbolhaft Erdstadt und Felsstadt unter sich begrub? Wie konnte dieses Denkmal von einem Sieg der Wasserhaften künden? Dennoch stand es hier. Dennoch hatte ihre Mutter mit unverbrüchlicher Überzeugung gesprochen. Nagender Zweifel sickerte in Tishanea ein. Wenn sie nicht einmal ihr Elternhaus wiedergefunden hatte – wie konnte sie dann ihren Erinnerungen an das Ende der fünfjährigen Fehden trauen? Sie wusste nur, was sie im Haus des dreifachen Friedens gelernt hatte. Und diese Schule war zu einem bestimmten Zweck gegründet worden: Ihre Zöglinge sollten den Frieden zwischen den drei Haftigkeiten bewahren. Sie sollten verhindern, dass Dreistadt wieder auseinander fiel. Also musste den Friedenslehrern alles daran liegen, die Gründung von Dreistadt als einzig mögliches Ende der fünfjährigen Fehden darzustellen. Geschlagene Erdhafte und Felshafte, die den ebenso großzügigen wie unklugen Wasserhaften Friedensverhandlungen abrangen, hätten nicht in dieses Bild gepasst. Die Gründer von Dreistadt waren nicht davor zurückgeschreckt, das Los über siebenjährige Kinder zu werfen und sie ihren Familien zu entreißen. Warum hätten sie also davor zurückschrecken sollen, diesen Kindern Lügen einzuflößen? Was hätte die Friedenslehrer davon abgehalten, einen Sieg der Wasserhaften als Katastrophe für alle drei Haftigkeiten zu verkaufen? Sie konnten den Zöglingen alles einreden, solange sie verhinderten, dass die Zöglinge auch die andere Seite zu hören bekämen. Verwirrt ließ Tishanea ihre Hand sinken, die geistesabwesend über den steinernen Brecher geglitten war. Wer sagte die Wahrheit? Ein Blick auf Rabess erinnerte Tishanea schmerzhaft an ihre erste Begegnung am Vortag – diese harten Züge, diese schmalen Augen...

„Mutter... Ich war noch so klein, als ich von zu Hause weggeholt wurde. Ich kann mich an so vieles nicht erinnern. Und die Leute, bei denen ich aufwuchs, waren ziemlich seltsam. Ich sollte nichts von dem wiederholen, was sie sagten – ich will auch gar nicht über sie sprechen.“

Rabess schüttelte den Kopf. „Das müssen in der Tat komische Leute sein. Kein Zweimündner, mit dem ich jemals sprach, wäre auf so fischköpfige Ideen gekommen. Außerdem bist du so... verändert. Als hättest du nicht in einer anderen Stadt gelebt, sondern auf einem anderen Ozean.“

Ein Schauer lief über Tishaneas Rücken. „Ich durfte für viele Jahre kaum das Haus verlassen. Mir ist jede Stadt fremd – sogar Zweimündung.“

Völlig unvermittelt brachen Rabess’ harte Züge auf. Sie ließ ihren Korb fallen, schlang ihre Arme um Tishanea und drückte sie an sich. „Diese Gleichheitsfanatiker vom Mittleren Grund sind an allem schuld! Sie haben dich damals geraubt! Wenn es dir nur früher möglich gewesen wäre, nach Seestadt zurückzukommen! Es tut mir so weh, dass dir so vieles fremd ist – und dass mir so vieles an dir fremd ist! Ich wünschte, ich könnte alles Fremde aus dir herausschwemmen! Aber es ist gut, dass ich es nicht kann! Nach so vielen Jahren müsste ich fürchten, dass dann gar nichts mehr übrig bliebe!“ Rabess löste sich von ihrer Tochter und fuhr sich über die Augen. „Wir sollten jetzt besser unsere Einkäufe machen, bevor der Markt schließt. Wir brauchen Wasserkastanien und frischen Seetang für das Abendessen.“

Tishanea folgte Rabess wie benommen. War es wirklich so schlimm? Würde nichts von ihr übrig bleiben, wenn man ihr alles Fremde aus dem Haus des dreifachen Friedens wegnahm?


Auf dem Heimweg entdeckte Tishanea Riesche auf einem der unbebauten Floßplätze. Sie saß neben einem jungen Wasserhaften unter einem Sonnensegel und schien völlig ins Gespräch vertieft zu sein. Doch als auch Rabess ihre ältere Tochter bemerkte und auf sie zusteuerte, sprang Riesche sofort auf.

„Es tut mir so Leid, Mutter!“ rief sie. „Ich habe völlig auf die Nautilusschalen vergessen! Ich helfe dir morgen, sie zum Händler zu bringen – versprochen!“

Die überschwängliche Entschuldigung versetzte Tishanea in Erstaunen. Es passte nicht zu ihrer kühlen, schnippischen Schwester, wegen einer solchen Kleinigkeit außer sich zu geraten. Freilich waren glänzende Augen und gerötete Wangen nicht unbedingt ein Zeichen von Schuldgefühlen... Tishanea ließ ihren Blick zu Riesches Begleiter weiterschweifen. Der Wasserhafte hatte sich inzwischen ebenfalls erhoben und stand in einigen Fischlängen Entfernung. Er hielt sich mit jener Art von Selbstsicherheit, die weit genug von Arroganz entfernt war, um echt zu sein. Seine Gestalt war nicht von einem harten, einseitigen Handwerk geformt. Sie wirkte so gleichmäßig gestählt wie ein Kriegerdenkmal und strahlte auch dieselbe Lässigkeit aus – eine Lässigkeit, die jederzeit in Spannung umschlagen konnte. Eine Reihe eingeflochtener Zöpfe ließ scharfe, aber harmonische Gesichtszüge hervortreten. Die blaugrauen Augen mit ungewöhnlich langen Wimpern schienen überall gleichzeitig zu sein und dennoch jede Einzelheit aufzunehmen. Tishanea fühlte, wie sie blass wurde, als sein Blick kurz an ihr hängen blieb. Es hatte etwas Vernichtendes, von diesen Augen nur gestreift zu werden. Dagegen verriet Riesches Miene, welche Gefühle ein längerer Blick auslösen konnte.

„Schon gut,“ nahm Rabess Riesches Entschuldigung an, wenn auch nicht ohne Schärfe. „Die Nautilusschalen sind trotzdem beim Händler abgeliefert worden. Tishanea hat mir geholfen. Friedliche abendliche Ebbe, Fjurosch.“

In wortloser Höflichkeit führte der Wasserhafte die rechte Faust zur gesenkten Stirn.

Rabess holte tief Atem, als wollte sie zu einer längeren Rede ansetzen. Doch dann erkundigte sie sich nur: „Wirst du zum Abendessen zu Hause sein, Riesche?“

„Nein, nicht heute.“

„Nun, dann – habt einen schönen Abend, ihr zwei!“

Unter allgemeinem Abschiedsnicken setzten Tishanea und ihre Mutter ihren Heimweg fort.

Nach einer Weile seufzte Rabess tief. „Da predige ich eurem Vater Geduld, und dann stehe ich jedes Mal selbst kurz davor, Fjurosch zum Abendessen einzuladen, wenn ich ihn mit Riesche sehe. Er geht uns zwar nie aus dem Weg, aber er ist so reserviert, dass ich immer noch nichts über ihn weiß. Riesche erzählt auch nichts über ihn, aber das tut sie ja nie. Ich weiß nicht einmal, was sein Beruf ist und in welchem Teil von Seestadt er wohnt. Er kommt jedenfalls nicht aus unserem Viertel – die Nachbarn kennen ihn alle nicht. Vielleicht sollte ich Riesche doch dazu bringen, ihn zu uns nach Hause einzuladen.“

Tishanea brannte darauf, Fjurosch wiederzusehen und mehr über ihn zu erfahren. Aber gerade die Heftigkeit ihres Wunsches warnte sie davor, ihm nachzugeben. Mehr als eine Frau, die in Fjuroschs Gegenwart glänzende Augen und rote Wangen bekam, wäre zu viel für eine Familie. Besser, sie hielt sich von Fjurosch fern – und Fjurosch von ihrem Elternhaus.

„Ich weiß nicht,“ erwiderte Tishanea deshalb. „Gerade wenn Fjurosch so reserviert ist, ist eine Einladung wahrscheinlich keine gute Idee. Ihr würdet dann auch bei einem Abendessen nicht mehr über ihn erfahren. Stattdessen würden sich alle unwohl fühlen – Fjurosch, weil er reden soll und nicht will, Vater und du, weil ihr immer noch nichts über ihn erfahrt, und Riesche, weil sie Fjurosch noch gar nicht nach Hause einladen wollte.“

„Wahrscheinlich hast du Recht.“ Rabess seufzte erneut. „Bei zurückhaltenden Leuten bleibt einem nichts anderes übrig, als zu warten, bis sie selbst dazu bereit sind, etwas von sich preiszugeben. Aber es ist nicht einfach für mich, wenn Riesche mit jemandem unterwegs ist, den ich überhaupt nicht kenne. Nicht, dass ich Fjurosch irgendetwas Böses unterstellen will – bewahre! Und Riesche kann sehr gut auf sich selbst aufpassen. Nur leider ist euer Vater in solchen Dingen noch ungeduldiger als ich. Er wird dann unausstehlich. Und gerade bei einer solchen Auster wie Fjurosch – irgendwann will ich dann doch wissen, was unter dieser dicken Schale ist.“

„Manche haben eine besonderes dicke Schale, um zu verbergen, dass darunter gar nichts ist,“ gab Tishanea gedankenverloren von sich. Im nächsten Moment hätte sie sich ohrfeigen können. Mit dieser „Weisheit“ hatte Schurac stets versucht, sie zu mehr Anteilnahme am Leben im Haus des dreifachen Friedens zu drängen. So klug es auch sein mochte, Fjurosch von sich fernzuhalten – sie wollte es wahrlich nicht mit Schuracs Worten tun. Noch dazu konnten diese Worte auf niemanden weniger zutreffen als auf Fjurosch. Leere Austernschalen würden keinen solchen Eindruck hinterlassen.

Rabess lachte. „Das hat Mutter auch immer gesagt. Lustig, dass du dich als Erste daran erinnert hast.“

Tishanea brachte ein schiefes Lächeln zustande. Wenn sie bei ihren Worten nur wirklich an Großmutter gedacht hätte!

„Da seid ihr ja endlich!“ begrüßte Goschub Rabess und Tishanea. „Ich dachte schon, ich müsste heute altes Fischleder zum Abendessen kochen. Her mit den Körben!“

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