Der Tod des Tyrannen


2

Mit einem dankbaren Seufzen legte Juluca ihre Rüstung ab und lehnte die beiden Platten gegen die Wand. So leicht der Brustpanzer und der Rückenteil aus Saphirkupfer auch waren – nach mehreren Tagen wurden sogar sie zu schwer und zu eng. Juluca ließ ihre Schultern kreisen, bevor sie ihr Hemd aufknöpfte. Erstaunlich, dass die dunkelblaue Seide auch jetzt noch glänzte, obwohl sie mehrmals schweißgetränkt worden war. Während ihrer ersten Zeit im Hildriss-Bund waren diese Seidenhemden in ihren Augen viel zu prunkvoll gewesen. Der Bund bezeichnete sich als Schutzmacht der ärmsten, unterdrückten Völker von Silteu, und hüllte gleichzeitig seine eigenen Leute in Seide?

„Wir müssen respektiert werden“, hatte Peluset auf ihren Protest geantwortet. „Wir müssen von unseren Feinden respektiert werden, und wir müssen von den Völkern respektiert werden, die wir befreien wollen. Dafür müssen wir den Eindruck erwecken, dass wir sicher sind, zu siegen – dass wir sicher sind, die befreiten Völker zu Frieden und Wohlstand führen zu können. Diesen Eindruck erwecken wir mit unseren Hemden und mit unseren Rüstungen. Wer Meister, Streiter und Soldaten in Seidenhemden und Saphirkupfer-Rüstungen in den Kampf schickt, zeigt, dass er sich nicht fürchtet. Unsere Uniform sagt: Wir können mit kostbarer Ausrüstung in den Kampf gehen, weil wir gewinnen werden. Unsere Hemden und unsere Panzer werden nicht zerstört werden, oder in die Hände unserer Feinde fallen. Und wenn unsere teuren Hemden im Kampf zerrissen oder zerschnitten werden, spielt es auch keine Rolle. Zu Hause in Nohmdal gibt es genug Gold, um neue Seide davon kaufen zu können – ohne dass dieses Geld für Nahrung oder für andere lebenswichtige Dinge fehlen würde. Unsere Hemden und unsere Rüstungen sind eine Drohung an unsere Feinde und ein Versprechen an die Unterdrückten. Sie sind ein wichtiger Teil der Sprache, die unser Bund spricht.“

„Und außerdem“, hatte Beromon ironisch hinzugefügt, „sind Seide und Saphirkupfer angenehmer zu tragen als kratzige Wolle und schwerer Stahl – sogar für zähe, idealistische Hildriss-Leute.“

Damals war Juluca über Beromons Zynismus entsetzt gewesen. Nun gab sie ihm schon lange recht. Selten war ihr in ihren Seidenhemden zu kalt oder zu warm geworden. Und wie schwer eine Rüstung aus Stahl nach mehreren Tagen und Nächten auf ihren Schultern lasten würde, wollte sie lieber nicht wissen. Aber nicht einmal die kostbarste Seide verhinderte den Schweißgeruch, der während eines Kampfes entstand. Juluca rümpfte die Nase und legte ihr Hemd beiseite. Ohne große Hoffnung packte sie den Henkel des Waschkruges. Auf Olruf herrschte keineswegs Wasserknappheit, aber der Brunnen lag tief unter dem Ostpfeiler. Die Soldaten hatten bestimmt Wichtigeres zu tun gehabt, als Wasser in die Quartiere der Streiter zu bringen. Leises Plätschern verriet Juluca, dass sie sich irrte. Beinahe hätte sie Wasser aus dem randvollen Krug verschüttet. Während sie sich wusch, ließ Juluca ihren Blick durch den Raum schweifen. Er war nicht besonders groß, aber ziemlich prunkvoll. Goldverzierte Verkleidungen aus hochpoliertem Edelbraunholz bedeckten alle Wände. Die beiden Türen – eine zum Gang, eine zum Nebenzimmer – hoben sich kaum von den Wänden ab. Hinter den meisten Paneelen verbargen sich Schränke. Aus einer Wand ließ sich ein Bett herunterklappen. In den beiden Fensternischen standen der Waschtisch und ein kleines Sofa mit Muup-Stickereien. Kunstvolle Stuckarbeiten verwandelten die Zimmerdecke in ein hellgrünes Blätterdach. Zweifellos gehörte dieser Raum als Ankleidekabinett zu dem benachbarten Gästezimmer. In dem Klappbett hatten wohl die Leibdiener der Gäste übernachtet. Das Gästezimmer hatte Cindre bezogen, die älteste und erfahrenste von den vier Streitern. Das zweite Gästezimmer war Beromon zugefallen. Lichart hatte das zugehörige Ankleidekabinett bekommen. Im prächtigen Schlafzimmer des Tyrannen würde Peluset schlafen – wenn auch widerwillig. Die Hildriss-Meisterin hätte lieber zehn Soldaten im Schlafgemach des Tyrannen untergebracht, statt sie in kleinere Räume zu pferchen. Dadurch hätten die Andrik gleich gesehen, dass im Hildriss-Bund selbst diejenigen mit dem niedrigsten Rang das beste Schlafquartier bekommen konnten. Aber noch war nicht sicher, ob die Andrik Peluset als Regentin akzeptieren würden. Zur Sicherheit war die Meisterin dem Anschein nach in die Fußstapfen des toten Tyrannen getreten. Peluset sorgte sich bereits genug über Cindres Todesstreich gegen Bugdor. Sie wollte kein weiteres Risiko eingehen. Juluca biss sich auf die Lippen, dann schüttelte sie entschlossen den Kopf. Peluset sollte ihren heutigen Sieg nicht mit solchen Sorgen trüben! Heute durften sie sich alle beglückwünschen: Der Tyrann von Igg war tot. Beide Meister und alle vier Streiter hatten den Kampf ohne schwere Verletzungen überstanden. Sogar unter den Soldaten gab es weniger Gefallene, als zu erwarten gewesen war. Die Andrik verhielten sich ruhig und schienen bereit, die Regentschaft durch den Hildriss-Bund anzunehmen. Juluca lächelte mit plötzlichem Übermut. Sie hatten es geschafft! Die Andrik waren frei und würden nie wieder Sklaven sein! Wie dankbar sie dem Hildriss-Bund sein würden, sobald ihnen wirklich bewusst wurde, dass sie von nun an zu den freien Völkern von Silteu gehörten!

Als Juluca in ein frisches Hemd schlüpfte, ging hinter ihr die Tür auf. Sie hätte sich nicht umzudrehen brauchen, um zu wissen, wer hereingekommen war. Nur Veander würde ihr gemeinsames Schlafzimmer betreten, ohne vorher anzuklopfen. Außerdem war sein Schritt unverkennbar. Immer setzte er den Fußballen etwas fester auf als den Stiefelabsatz. Trotzdem wirbelte Juluca herum – jetzt konnte sie ihre unbändige Freude über den Erfolg dieser Mission endlich mit jemandem teilen!

Veander gab ihr Lächeln verhalten zurück – ganz, wie es seine Art war. „Dein Strahlen beruhigt mich. Ich hatte schon befürchtet, dass du mir noch böse sein könntest.“

Verwirrt zog Juluca die Brauen zusammen. „Wieso?“

„Weil ich dich vorher angefahren habe – wegen deines Messersprungs.“

„Ach, deshalb...“ Julucas Brauen trennten sich langsamer voneinander, als sie wollte. „Es wäre dumm, heute auf jemanden böse zu sein. Wir feiern zwar nicht, damit die Andrik nicht glauben, dass wir über sie triumphieren, aber trotzdem ist heute ein Feiertag!“

Veander legte einen Arm um Julucas Taille. Mit der anderen Hand fuhr er ihr durchs Haar. „Ja, heute ist ein Feiertag. Umso schlimmer wäre es gewesen, wenn ich dich gerade heute verloren hätte – wegen einem einzigen Augenblick des Leichtsinns!“

Unwillkürlich verzog Juluca das Gesicht. Sofort verstärkte Veander den Griff um ihre Taille.

„Entschuldige. Das war wieder völlig unnötig. Und ich wollte es eigentlich auch nicht sagen. Es ist nur... Wenn du den Messersprung nicht ausgerechnet wegen Lichart gemacht hätt–“

Julucas Finger auf seinen Lippen schnitt Veander das Wort ab.

„Das wird dir zwar kein großer Trost sein, weil du meinen Messersprung auf jeden Fall für völligen Schwachsinn halten wirst – aber ich hätte diesen Messersprung genauso gemacht, wenn jemand anderer an Licharts Stelle gestanden wäre. Und ich habe den Sprung ja nicht einmal nur wegen Lichart gemacht, sondern auch wegen Cindre! Sie hätte schließlich an seiner Seite sein sollen, und war es nicht mehr. Woher hätte ich wissen sollen, dass sie nicht im Kampf gefallen ist? Ich bin dorthin gesprungen, wo der entscheidende Kampf getobt hat – um dafür zu sorgen, dass dieser Kampf richtig ausgeht. Ich konnte diesen Ort nur mit einem Messersprung erreichen, und meine Messer waren nicht die einzigen Waffen im Thronsaal. Ich hätte schon noch ein Schwert von einem Andrik ergattert. Mehr werde ich dazu nicht mehr sagen. Wir brauchen wirklich nicht nochmals durchzukauen, dass ich einmal für Lichart geschwärmt habe, dass aber niemals etwas aus ihm und mir geworden wäre, und dass ich seit eineinhalb Jahren nur einen einzigen Mann liebe: Dich!“

Endlich verloren die grünen Augen ihren starren Blick. „Hm“, nuschelte Veander hinter Julucas Finger hervor. „Den ganz letzten Punkt würde ich allerdings gerne nochmal durchkauen...“

Juluca lachte. „Wenn du zur Abwechslung damit aufhörst, dir über irgendetwas Sorgen zu machen, lässt sich das sicher machen.“

Sie setzte zu einem flüchtigen Kuss an, aber Veander hielt sie fest und ließ ihre Lippen nicht fort. Außer Atem vergrub Juluca schließlich ihr Gesicht in Veanders Halsbeuge.

„Ich mache mir keine Sorgen“, flüsterte er ihr ins Ohr. „Nur Gedanken.“

Juluca unterdrückte ein Stöhnen. Begriff dieser Mann denn nie, wann es Zeit war, den Mund zu halten?

„Egal, ob es Sorgen oder Gedanken sind – es sind jedenfalls zu viele davon!“

Veander umfasste Julucas Ellbogen und rückte sie ein Stück von sich ab. Sein zurückhaltendes Lächeln umspielte wieder seine Lippen. „Bist du sicher? Ich dachte, es wären meine vielen Gedanken gewesen, die dich schließlich zu mir gezogen haben.“

„Ja“, musste Juluca zugeben. „Allerdings waren es deine vielen Gedanken über die unterdrückten Völker von Silteu und über ihre Befreiung! Diese vielen Gedanken haben mir klar gemacht, wie sehr dir die Arbeit unseres Bundes am Herzen liegt – und wie klug du bist! Aber es gibt auch einen ganzen Haufen Dinge, über die du dir keine Gedanken zu machen brauchst!“

„Wahrscheinlich hast du recht. Aber ich kann mein Hirn eben nicht abschalten – nie. Nicht einmal dann, wenn ich hundemüde bin und nichts lieber täte, als nach einem erfolgreichen Tag friedlich neben dir einzuschlafen. Obwohl – ich glaube, heute werden mich nicht einmal meine Gedanken noch lange wach halten.“ Veander rieb sich die Augen. „Am besten werde ich jetzt dieses Zeug los und wasche mich, damit ich es zumindest bis ins Bett schaffe, bevor ich einschlafe.“

Erst jetzt bemerkte Juluca die tiefen Schatten unter Veanders Augen. Durchwachte Nächte machten ihm immer schwer zu schaffen. Bestimmt hatte er während der vergangenen Tage noch weniger geschlafen als sie – eben wegen der vielen Gedanken, die ihm immer im Kopf herumgingen. Juluca nahm ihm seine Rüstung ab und lehnte die Platten griffbereit gegen die Wand neben dem Bett. Selbst wenn alles friedlich war, achtete ein Hildriss-Streiter immer darauf, seine Rüstung und seine Waffen in Windeseile anlegen zu können.

Veander tauchte einen Waschlappen in die Waschschüssel. „Ich glaube, Peluset ist immer noch zornig auf Cindre. Natürlich versucht sie, sich nichts anmerken zu lassen – du kennst Peluset ja. Aber je stiller sie ist, desto mehr kocht es in ihr. Und heute Nachmittag war sie sehr still. Dabei ist sie sonst kaum zu bremsen, wenn eine Sache erfolgreich abgehakt ist, und wir zum nächsten Schritt des Plans übergehen können.“

Juluca klappte das Bett herunter und setzte sich darauf. „Ich finde, dass Peluset heute viel zu streng mit Cindre war – besonders, wenn sie jetzt noch immer zornig auf sie ist.“

Eine nasse, bedächtige Miene wurde über dem Waschlappen sichtbar. „Nun ja – Cindre hat sich nicht an den Plan gehalten. Wie oft hat Peluset uns eingeschärft, dass sie den Todesstoß gegen Bugdor führen muss?“

„Sehr oft.“

Zu oft, setzte Juluca stumm hinzu. Wann immer sie den Sturm auf Olruf besprochen hatten, waren sie von Peluset daran erinnert worden, wie wichtig der Todesstoß war. Nicht nur einmal. Mehrmals. Am Ende hatte Juluca die ständigen Erinnerungen schon übertrieben gefunden.

„Natürlich hat Peluset keinen Zweifel daran gelassen, wie wichtig der Todesstoß ist – oder wie wichtig er zumindest sein könnte. Aber über den Plänen und Beschlüssen einer Meisterin stehen immer noch die Regeln unseres Bundes. Und nach diesen Regeln haben wir Streiter die Pflicht, unsere Meister zu beschützen. Cindre hat sich nur an die Regeln gehalten. Wie hätte sie denn sicher sein sollen, ob Peluset noch kräftig genug war, um Bugdors Axtschlag abzuwehren und den Todesstoß zu führen? Immerhin war es Bugdor gelungen, Peluset auf die Knie zu zwingen! Wenn er sie getötet hätte, hätte Peluset den Todesstoß auf keinen Fall mehr führen können – und dann wäre es erst recht Cindre gewesen, die Bugdor getötet hätte. Trotzdem wäre dann Beromon der Sprecher unserer Mission geworden, nicht Cindre. Schließlich ist er ein Meister, und Cindre ist nur eine Streiterin. Wenn es so unglaublich wichtig ist, dass der Todesstoß von demjenigen geführt wird, der Sprecher ist oder Sprecher werden kann, dann hätte Beromon den Sturm auf den Thronsaal mitmachen müssen! Dann hätte er zur Stelle sein müssen, für den Fall, dass Peluset getötet wird! Stattdessen übernahm er den Befehl über die Nachhut, und es war immer nur die Rede davon, dass einer von uns Streitern den Tyrannen töten soll, falls Peluset stirbt. Wieso soll es also jetzt so ein großes Problem sein, dass Cindre Bugdor getötet hat? An ihrer Stelle hätte ich dasselbe getan wie sie – aus purem Reflex. Bugdor war doch bereits besiegt, Cindre hatte ihr Messer an seiner Kehle. Warum hätte Cindre es also zulassen sollen, dass er Peluset in den Tod mitnimmt? Die Vermutung, dass die Andrik nur denjenigen als Regenten akzeptieren werden, der höchstpersönlich den vorigen Herrscher getötet hat, ist immer noch nicht mehr als das: Eine Vermutung. Hättest du Pelusets Leben wegen einer Vermutung geopfert?“

Gedankenverloren schrubbte Veander seine Brust. „Ich weiß es nicht. Ich fürchte, dass ich an Cindres Stelle völlig gelähmt gewesen wäre – hin- und hergerissen zwischen dem Plan und meiner Pflicht, Peluset zu beschützen. Also hätte ich gar nichts getan, und die Entscheidung wäre mir aus der Hand genommen worden – entweder von Peluset, oder von Bugdor.“

Juluca senkte den Kopf und begann, ihre Füße zu massieren. Nach solchen Bemerkungen fragte sie sich immer, ob Veander sich wirklich so gut kannte, oder ob er sich schlechter machte, als er war. Eines war jedoch sicher:

„Und wenn Peluset dabei gestorben wäre, hättest du dich danach furchtbar gefühlt – obwohl du dich an die Anweisungen deiner Meisterin gehalten hättest!“

„Ja, natürlich.“ Die Vorstellung verzerrte für einen Augenblick Veanders Mund.

„Cindre wäre es nicht anders gegangen als dir“, hakte Juluca sofort nach. „Wie hätte sie also die Schuld an Pelusets Tod auf sich nehmen können? Eigentlich hat Peluset etwas Undenkbares von ihr verlangt – von jedem von uns Streitern.“

„Vielleicht... vielleicht aber auch nicht.“ Unerwartet heftig wrang Veander den Waschlappen aus, bevor er ihn über den Waschkrug hängte.

Verunsichert hielt Juluca in ihrer Massage inne. „Was meinst du damit?“

Veander legte sich ein Handtuch um den Nacken und setzte sich neben Juluca auf das Bett. „Ich meine damit, dass vielleicht nicht jeder von uns Streitern in Cindres Lage gekommen wäre.“

Juluca schüttelte den Kopf. „Das ist jetzt einer von deinen vielen Gedanken, dem ich nicht folgen kann.“

„Ich folge ihm selbst nicht gern. Dieser Gedanke kommt nämlich von einer Sache, die ich gar nicht wissen sollte...“ Nach einer kurzen Pause griff Veander nach Julucas Hand. „Kannst du dich noch an die Zeit vor dem Gründungsfest vor zwei Jahren erinnern? Als wir davon überzeugt waren, dass Cindre während des Fests zur Meisterin erhoben werden würde?“

„Ja, natürlich. Lichart hoffte damals, dass Farleen doch noch mit uns auf Mission gehen würde – an Cindres Stelle, weil die Hochmeister nicht drei Meister nach Igg schicken würden.“ Gerade noch rechtzeitig hinderte Juluca ihre Hand daran, sich unter Veanders Fingern zu verkrampfen. Warum schmerzte diese Erinnerung heute noch, obwohl sie Veander liebte, und obwohl Farleen Lichart zurückgewiesen hatte – auf eben diesem Gründungsfest, vor zwei Jahren? Hastig fuhr Juluca fort: „Aber Cindre wurde nicht zur Meisterin erhoben. Sie wurde endgültig als Streiterin für diese Mission eingeteilt. Worauf willst du hinaus?“

Zu ihrer Erleichterung hatte Veanders Mund sich nicht verzogen, als sie Lichart erwähnte. „Es geht um den Grund dafür, warum Cindre noch eine Streiterin ist, obwohl sie bereits eine Meisterin sein könnte. Das heißt, es geht um den möglichen Grund dafür, oder zumindest um einen der Gründe. Kurz vor dem Gründungfest habe ich zufällig gehört, wie Peluset und Minkord sich über Cindre unterhielten. Sie gingen im Brunnenhof ihre Runden, und ich saß hinter dem halb offenen Fenster im Kleinen Schreibraum. Peluset sagte damals, dass sie sich Sorgen um Cindre machen würde – weil es ihr nicht gelingen würde ihren Machthunger niederzukämpfen. Machthungrig darf eine Hildriss-Meisterin natürlich nicht sein. Machthunger könnte es Cindre schwer machen, ein befreites Volk in die Selbständigkeit zu entlassen, wenn die Mission sich ihrem Ende zuneigt. Minkords Antwort verstand ich nicht mehr, er war schon zu weit von mir entfernt. Ich dachte mir damals nicht viel dabei. Jeder Hildriss-Meister hat seine Schwächen. Die Hochmeister würden Cindre nach ihrer Erhebung zur Meisterin eben genau beobachten und sie mahnen, wenn sie zu lange an der Regentschaft eines befreiten Landes festhalten sollte. Erst als Cindre beim Gründungsfest nicht zur Meisterin erhoben wurde, habe ich begriffen, wie ernst Pelusets Bedenken gewesen sein müssen. Sie waren ernst genug, dass Cindre noch jahrelang eine Streiterin bleiben sollte – zumindest so lange, wie diese Mission dauert. Während einer Mission wird ja fast nie jemand in einen höheren Rang erhoben. Vielleicht nahmen die Hochmeister Pelusets Bedenken so ernst, dass Cindre nie eine Meisterin werden wird. Seit diesem Gründungsfest beobachtete ich Cindre genauer. Ohne es zu wollen. Ich kann einfach nicht anders. Und inzwischen weiß ich, was Peluset meint. Cindre ist wirklich machthungrig. Sie behandelt die Soldaten nicht gut und lässt sie dauernd spüren, dass sie ihre Untergebenen sind. Sie betont viel zu oft, dass sie die älteste und erfahrenste unter uns Streitern ist. Sie bekommt einen gierigen Blick, wenn sie etwas besonders Wertvolles sieht. Sie legt es ständig darauf an, aufzufallen und zu beeindrucken. Das sitzt einfach tief in ihr. Und genau das habe ich gemeint, als ich sagte, dass Lichart, du oder ich vielleicht nicht in dieselbe Lage gekommen wären wie Cindre. Für uns drei war wichtig, dass Bugdor stirbt, und dass Peluset – wenn es irgendwie geht – den Todesstoß selbst führt. Wir wollten keinesfalls diejenigen sein, die Bugdor töten müssten – denn das hätte bedeutet, dass Peluset tot wäre. Oder zumindest hätte es bedeutet, dass wir die Pläne in Gefahr bringen, die Peluset so sorgfältig ausgearbeitet hat. Aber wenn ihr Machthunger wirklich so groß ist, wie Peluset fürchtet, dann denkt Cindre nicht so wie wir. Dann war es sehr wahrscheinlich, dass Cindre in eine Lage geraten würde, aus der sie nicht mehr herauskommen konnte, ohne unsere Pläne zu durchkreuzen. Dann hätte ihr Machthunger sie nämlich dazu getrieben, zu früh in den Kampf zwischen Peluset und Bugdor einzugreifen.“

„Willst du damit sagen, dass es Cindres Plan war, Bugdor zu töten? Damit die Andrik sie als ihre neue Regentin ansehen würden, und nicht Peluset?“ Beinahe hätte Juluca sich an die Stirn getippt. Wie konnte Veander nur auf so einen Gedanken kommen? Er sprach von einer Hildriss-Streiterin!

Veander schien ihre Entrüstung nicht zu bemerken. Er schüttelte langsam den Kopf. „Nein, das will ich damit nicht sagen. Ich hoffe sehr, dass es nicht so schlimm ist! Vielleicht wollte Cindre nur etwas besonders Heldenhaftes tun, damit sie den Meistern zeigen kann, was in ihr steckt. Etwa Peluset das Leben retten. Oder den Todesstoß gegen Bugdor führen, wenn Peluset gefallen wäre. Damit hätte sie nicht gegen unsere Pläne verstoßen, sondern viel Ehre und Anerkennung gewonnen – genau das, was sie brauchen würde, um endlich zur Meisterin erhoben zu werden. Wahrscheinlich hungert sie nur danach, eine Meisterin zu werden. Aber auf jeden Fall war es ihr Machthunger, der sie in eine Lage gebracht hat, in der sie nur verlieren konnte. Er hat sie übereifrig gemacht.“ Sorge und Erschöpfung gruben sich in Veanders Züge ein.

Juluca streichelte mit dem Daumen über seinen Handrücken. Veander quälte sich immer so – völlig unnötig. Aus Mitgefühl verbannte Juluca allen Unwillen aus ihrem Ton.

„Bist du sicher, dass es Übereifer war? Wie viel hast du von dem Kampf zwischen Peluset und Bugdor gesehen?“

Veanders Brust hob sich zu einem tiefen Seufzen. „Zu wenig, um wirklich sicher zu sein. Ich musste doch den Ansturm der Andrik auf der linken Seite abblocken. Natürlich war Cindre viel näher dran als ich. Möglich, dass es das einzig Richtige war, in den Kampf zwischen Peluset und Bugdor einzugreifen. Schließlich wäre Bugdor Cindre und Lichart sofort in den Rücken gefallen, nachdem er Peluset besiegt hätte. Mit viel Pech wären Lichart und Cindre tot gewesen, bevor sie noch begriffen hätten, dass Peluset gefallen ist. Dann wären nur noch wir beide im Thronsaal übrig geblieben – wir, der Tyrann und seine Leibwächter...“ Veander ließ Julucas Hand los, um stattdessen einen Arm um ihre Schultern zu legen. „Lichart kann die Sache bestimmt besser einschätzen als ich. Er war schließlich genauso dicht dran wie Cindre. Und er hat gesagt, dass Cindre plötzlich von seiner Seite verschwand – ganz ohne Vorwarnung. Er hat aber auch gesagt, dass Bugdor Peluset gerade in schwere Bedrängnis gebracht hatte. Wenn ich wissen will, wie groß die Gefahr für Peluset wirklich war, muss ich Lichart genauer befragen. Aber ich mag ihn nicht darüber ausquetschen. Er würde dann wissen wollen, warum ich ihm diese ganzen Fragen stelle. Ich will aber nicht, dass noch jemand misstrauisch gegen Cindre wird. Es reicht schon, dass ich dir das alles erzähle. Aber wenn ich die Sache noch länger mit mir herumtrage, verbohre ich mich am Ende ganz darin. Ich will Cindre nicht unrecht tun. Mit dir zu sprechen, hilft mir dabei.“

Juluca schmiegte sich an Veander. Dass dieser kluge, gewissenhafte Mann ausgerechnet ihr so tief vertraute, erfüllte sie immer wieder mit Verwunderung und Stolz – und mit dem Wunsch, ihm tatsächlich zu helfen. Egal, wie absurd sie seine Sorgen fand. Eine Hildriss-Streiterin würde sich nie von so etwas wie Machthunger fortreißen lassen. Ein machthungriger Mensch würde dem Bund doch gar nicht beitreten!

„Lichart war nicht wütend darüber, dass Cindre plötzlich ihren Platz verlassen hatte. Also muss er ihre Entscheidung, Peluset zu helfen, für richtig halten. Du weißt, wie zornig er werden kann, wenn jemand im Kampf nicht dort ist, wo er am dringendsten gebraucht wird.“

Die Spannung wich aus Veanders Körper. „Du hast recht. Sonst wird Lichart nie zornig, aber in so einem Fall schon. Da gerät er viel schneller in Wut als Peluset. Lichart hätte Cindre als Erster angeschrien, wenn er ihr Verhalten falsch gefunden hätte. Wahrscheinlich mache ich aus einer Brise einen Wirbelsturm – nur wegen ein paar Satzfetzen, die ich zufällig vor zwei Jahren aufgeschnappt habe... Vielleicht war Peluset heute Nachmittag gar nicht mehr auf Cindre wütend. Vielleicht hat ihr etwas anderes zu schaffen gemacht. Es war ihr überhaupt nicht recht, dass einige Soldaten in der Küche schlafen müssen, während sie das Schlafgemach des Tyrannen übernahm...“

Rasch schnitt Juluca diesen neuen Gedankengang ab. Auch er würde nur Seufzen und herabgezogene Mundwinkel mit sich bringen. „Das wird sich alles einrenken. Peluset muss ja nicht lange im Schlafzimmer der Tyrannen bleiben, wenn sie nicht will. Nachdem die Andrik sie einmal als ihre Regentin akzeptiert haben, wird es völlig egal sein, wo sie schläft.“ Juluca biss sich auf die Lippen. Das würde nicht reichen, um Veander von seinen Sorgen abzulenken. Er würde sie jetzt nur daran erinnern, dass die Andrik Peluset noch nicht akzeptiert hatten. Eilig schob Juluca einen Scherz hinterher: „Peluset wird sich einfach auf diesen beeindruckenden Thron setzen, dann werden die Andrik sie auf jeden Fall als ihre neue Regentin akzeptieren.“

Veander lächelte nicht einmal. „Auf dem Thron von Igg wird so schnell niemand mehr sitzen. Bugdor hatte keinen Schlüsselstein bei sich. Der Thron könnte also genauso gut auf der anderen Seite von Silteu stehen. Der Yegran-Schleier ist völlig undurchdringlich.“

Juluca winkte ab. „Bugdor hat den Stein sicher in seiner Schmuckschatulle vergessen. Unser Angriff kam einfach zu plötzlich. Wahrscheinlich hatte Bugdor gerade noch genug Zeit, um seine Rüstung anzulegen. Wir werden den Schlüsselstein schon noch finden. Und wenn nicht, macht es auch nichts. Dieser Thron ist ab heute nur noch ein Denkmal. Irgendwann wird niemand mehr, der den Thron bestaunt, noch daran denken, dass einmal grausame Tyrannen darauf gesessen sind.“

„Das würde ich mir nicht wünschen. So etwas darf nie vergessen werden. Aber so weit sind wir ohnehin noch lange nicht.“ Veander drückte einen Kuss auf Julucas Lippen und zog sie mit sich, als er sich hintenüber auf das Bett fallen ließ.