Der Tod des Tyrannen


3

In dem riesigen Hof der Festung wirkte die Truppe von zweihundert Hildriss-Soldaten lächerlich klein. Unablässig kehrte Julucas Blick zum Fuß des Südpfeilers zurück. Die übermütige Erleichterung, mit der sie eingeschlafen war, hatte sich in Nichts aufgelöst. Gestern waren sie nur den allerersten Schritt zur Befreiung der Andrik gegangen. Heute stand ihnen der heikelste Moment auf dieser Mission bevor: Wenn die Andrik im Lauf der Nacht beschlossen hatten, dass sie den Hildriss-Bund vertreiben wollten, würden sie jetzt zuschlagen – jetzt, wo alle Meister, alle Streiter und alle Soldaten mitten im Hof versammelt standen. Im Südpfeiler war zwar der einzige Zugang zu den unterirdischen Wohnungen der Andrik. Aber nichts würde die Andrik daran hindern, oben in den Bögen der Festung auszuschwärmen und dann von allen vier Seiten gleichzeitig anzugreifen. Unter diesem Ansturm würden die Hildriss-Soldaten es nicht einmal mehr schaffen, einen geordneten Rückzug anzutreten. Der Spalt am Fuß des Nordwest-Schleiers klaffte zwar immer noch, doch die Soldaten müssten ihn erst erreichen, und sich dann noch darunter hindurch ducken. Dabei würden sie für einen Moment völlig wehrlos sein. Freilich hatten die Meister ihre Soldaten genau aus diesem Grund hier in der Mitte des Hofes versammelt. Die Andrik sollten sehen, dass der Hildriss-Bund zu seinem Wort stand. Der Bund zwang ihnen keine neue Regierung auf. Er bot sie ihnen an. Sie konnten dieses Angebot annehmen, oder es ablehnen. Sie konnten dieses Angebot sogar mit Gewalt ablehnen, wenn sie das für notwendig hielten. Oder wenn sie keinen anderen Weg kannten. Der Bund machte sich verletzlich, um das Vertrauen des befreiten Volkes zu gewinnen – so verletzlich, dass sogar das Marschgepäck der Soldaten oben in der Festung zurückgeblieben war. Nach einer Rebellion der Andrik gegen den Bund würden die Hildriss-Leute auf ihrer Flucht nicht einmal eine Flasche Wasser oder einen Bissen Essen dabei haben. Sie hätten nur ihre Waffen. Unwillkürlich wanderte Julucas Hand zu Veanders Yegran-Messer, das von der Metallschlaufe ihres Brustpanzers baumelte. Wenn es nachts doch nur möglich gewesen wäre, einen Blick in die Wohnungen der Andrik zu werfen – nur einen kurzen! In dem Wissen, dass auch unter der Erde alles ruhig geblieben war, wäre diese Warterei nicht so unerträglich gewesen. Die Ruhe auf der Erdoberfläche konnte trügerisch sein. Juluca fuhr beinahe zusammen, als sich am Fuß des Südpfeilers etwas bewegte. Ein Andrik wurde sichtbar. Er rannte nicht, er schrie nicht, er hob keine Waffen. Mit gemessenem Schritt näherte er sich den beiden Hildriss-Meistern, die vor ihren Streitern und vor den Soldaten Aufstellung genommen hatten. Drei weitere Andrik folgten ihm, ebenso ruhig wie der Erste. Jeder von ihnen trug nur einen gewebten Lendenschurz umgebunden. Die Kettenhemden und die losen Tuniken aus grauem Wollstoff, die sie am Vortag angehabt hatten, waren verschwunden, genau wie die Helme. Die Schlappohren der Andrik schwangen frei, und ihr samtartiges Fell schimmerte im Morgenlicht. Die fehlende Kleidung hätte wie eine Befreiung gewirkt, wenn die Andrik stolz vor den Hildriss-Leuten gestanden wären. Doch sie verneigten sich mit unverkennbarer Demut. Die Andrik hatten die Kleider nicht abgelegt, weil sie damit jede Erinnerung an den letzten Tyrannen abstreifen wollten. Sie hatten die Kleider abgelegt, um den Hildriss-Leuten ihre Unterwerfung zu zeigen. Nichts sollte die Fremden glauben lassen, dass die Andrik ihrem toten Tyrannen die Treue hielten. Julucas Augen brannten plötzlich. Die Tyrannen hatten die Andrik vollkommen gebrochen. Pelusets Versprechungen waren ungehört verhallt. Die Andrik wussten nicht einmal, was Freiheit sein sollte. Sie kannten nur Tyrannenherrschaft. Dem Hildriss-Bund stand auf dieser Mission harte Arbeit bevor. Aber die Mission konnte wirklich beginnen. So bitter es auch war, dass sie es ohne Hoffnung taten – die Andrik erlaubten dem Bund, seine Arbeit anzufangen. Die Hoffnung würde schon noch kommen.

Für eine Weile herrschte feierliche Stille. Dann wandte Peluset sich an den Andrik, der die Vierergruppe in den Hof geführt hatte. Er stand auch jetzt noch einen halben Schritt vor den anderen Andrik.

„Bist du von den Deinen ausgewählt worden, um für die Andrik zu sprechen?“

Der Andrik verneigte sich nochmals. „Ich spreche für die Andrik.“ Seine Stimme klang hoch und ein wenig hohl. Die türkisfarbenen Augen richteten sich immer nur für einen Moment auf Peluset. Meist starrte er an ihr vorbei, völlig ausdruckslos. Anscheinend war es den Andrik verboten gewesen, ihrem Herrscher lange in die Augen zu schauen.

„Ich bin Peluset, eine Meisterin des Hildriss-Bundes und die Sprecherin auf dieser Mission. Meine Begleiter sind Meister Beromon und die Streiter Cindre, Lichart, Veander und Juluca. Die Kämpfer sind unsere Soldaten – Hildriss-Soldaten. Wie ist dein Name?“

„Grontrart“, schnarrte der Andrik. „Grontrart der Plevme.“

Peluset blickte über ihre Schulter, zu Juluca. Zu ihrem Verdruss musste Juluca den Kopf schütteln. In keinem der Bücher, die etwas über die Andrik enthielten, war das Wort „Plevme“ vorgekommen.

Der Andrik deutete die Unterbrechung falsch: „Gron reicht. Drjun nannte mich immer Gron.“

„Drjun?“, erkundigte Peluset sich. „Meinst du Bugdor, euren toten Herrscher?“

Der Andrik nickte.

„Was euer Drjun getan hat, hat für mich keine Bedeutung.“ Peluset schenkte dem Andrik ein herzliches Lächeln. „Wie möchtest du gerne genannt werden?“

Die Miene des Andrik blieb völlig ausdruckslos. Nur seine Lider senkten sich zweimal. Rau kam aus dem schmallippigen Mund: „Gron. Nennt mich Gron.“

„Wie du wünschst, Gron.“ Für einen Moment wirkte Pelusets Lächeln angestrengt. Die Meisterin hatte wohl auf eine andere Antwort gehofft. „Willst du mir deine Begleiter vorstellen?“

Gron ging zwei Schritte zur Seite, damit er auf die anderen drei Andrik deuten konnte. „Tsnemji die Klaznurt, Dlefwimm der Grd und Bjizruth die Zsynnlild.“

Diesmal verzichtete Peluset darauf, Juluca einen fragenden Blick zuzuwerfen – zum Glück. Auch diese seltsamen Titel hatte Juluca noch nie zuvor gehört. Sie konnte nicht einmal raten, was sie bedeuten sollten. Kleidung, die irgendwelche Hinweise gegeben hätte, trugen die Andrik nicht. Und ihr Aussehen verriet noch weniger. Juluca hatte Mühe, überhaupt Unterschiede zwischen den Andrik zu entdeckten. Dlefwimm war der Größte in der Gruppe. Auf Bjizruths rechtem Ohr zog sich ein dünner Strich durch das Fell, als ob darunter eine Narbe säße. Tsnemji musste die Älteste der Gruppe sein – so zierlich und zerbrechlich, wie sie aussah. Einem Menschen von Julucas Größe würde diese Andrik gerade bis zum Rippenbogen reichen. Kam der gelbliche Ton ihres Fells auch vom Alter? Es sah jedenfalls gesund aus, ohne struppige oder kahle Stellen. Juluca betrachtete Tsnemjis Gesicht genauer. Schlagartig erkannte sie ihren Irrtum. Tsnemji war eine junge Andrik. Sehr jung. Ihre Wimpern waren noch dunkel, und die Nasenkante rundlicher als bei ausgewachsenen Andrik. Das Alter spielte in der Rangordnung der Andrik also keine Rolle. Hatte Tsnemji ihren Rang von einer früh verstorbenen Mutter oder einem früh verstorbenen Vater geerbt?

Pelusets Stimme riss Juluca aus ihren Gedanken: „Lasst uns nun über eure Zukunft sprechen – über die Zukunft von Igg. Ihr hattet eine Nacht, um die Befreiung von eurem Tyrannen zu feiern und über das Angebot des Hildriss-Bundes nachzudenken. Wir bieten euch unsere Hilfe und unsere Führung auf dem Weg in die Freiheit an. Was sagen die Andrik? Werdet ihr euch den Händen des Hildriss-Bundes anvertrauen? Werdet ihr unsere Hilfe und Führung annehmen, damit wir gemeinsam eine glänzende, freie Zukunft für euer Volk schaffen können?“

Zum dritten Mal verneigte Gron sich. „Andrik nehmen Hildriss-Frau als Drjuns-Aspirantin an.“

Peluset erwiderte die Verneigung. Grons Ohren zuckten leicht. Immer noch starrte er an der Meisterin vorbei.

„Der Hildriss-Bund fühlt sich geehrt, dass die Andrik die Hilfe und seiner Meister und Streiter annehmen. Ihr versteht doch, dass der Hildriss-Bund nicht auf dieselbe Weise herrscht, wie eure... eure Drjuns geherrscht haben? Wir werden euch unterrichten und am Anfang auch regieren, aber wir werden keine Befehle geben. Das Wort von euch Andrik wird immer Gewicht haben. Und mit der Zeit wird dieses Gewicht immer größer werden. Einen neuen Drjun wird es jedenfalls nicht geben. Es wird also auch keine Drjuns-Aspirantin geben.“

Grons Ohren richteten sich steil auf. „Andrik können nur durch Drjun regiert werden. Hildriss-Frau wird durch Drjuns-Zeremonie zu unserer Drjun gemacht werden.“

Pelusets Lächeln verlor seinen Glanz, verschwand aber nicht. Die Hochmeister hatten von Anfang an damit gerechnet, dass die Andrik keine andere Herrschaft verstehen würden als die eines allmächtigen Herrschers. Woher hätten sie auch die Vorstellung nehmen sollen, dass jeder gleich viel galt und dass jeder in einem Volk eine Stimme haben sollte? Gedanken wie diese waren einem jahrhundertelang versklavten Volk so fremd wie ein Muup einem Wengil. Der Weg in die Freiheit würde für die Andrik schwer genug werden. Der Bund wollte sie nicht schon am Anfang heillos verwirren. Alles würde einfacher laufen, wenn Peluset der Form halber den Platz der alten Tyrannen einnahm. Je sicherer die Andrik sich fühlten, desto schneller würden sie lernen, was eine gute Regierung war.

Die Meisterin verzichtete auf eine weitere Verbeugung und neigte nur den Kopf. „Es wird mir eine Ehre sein, mich von euch mit der Drjuns-Zeremonie zu eurer Drjun machen zu lassen.“

Zum ersten Mal fixierte Gron Peluset mit einem langen Blick aus seinen undurchdringlichen Türkisen. Am Ende schüttelte er den Kopf. „Hildriss-Frau ist nicht Drjuns-Aspirantin. Diese Hildriss-Frau ist Drjuns-Aspirantin.“ Gron trat vor Cindre und verneigte sich noch tiefer als zuvor. „Diese Hildriss-Frau werden die Andrik mit der Drjuns-Zeremonie zu ihrer Drjun machen.“

Wie auf Kommando wandten sich auch die anderen drei Andrik Cindre zu und verneigten sich. Cindre blieb reglos stehen und starrte vor sich hin.

„Weshalb soll die Streiterin Cindre eure Drjun werden?“ Pelusets Stimme war schlagartig leiser geworden.

Grons Ohren legten sich enger an seinen Kopf, als er sich wieder zu Peluset umdrehte. Signalisierte dies Ärger? Verachtung?

„Sie tötete Drjun. Sie ist Drjuns-Aspirantin. Nach der Drjuns-Zeremonie wird sie neue Drjun sein.“

Die Kiefermuskeln traten auf Pelusets Gesicht hervor. Es dauerte einige Augenblicke, bis die Meisterin dazu fähig war, an Cindres Seite zu treten.

„Natürlich. Cindre wird die neue Regentin der Andrik sein – im Namen des Hildriss-Bundes.“

Der Anführer der Andrik begrüßte diese Ankündigung mit einer halben Verbeugung. „Tsnemji die Klaznurt wird noch heute Vormittag zu Drjuns-Aspirantin kommen. Klaznurt wird Drjuns-Aspirantin auf Zeremonie vorbereiten.“

Gron winkte den anderen Andrik, zu gehen, aber Peluset hielt ihn zurück:

„Wartet! Es gibt vorher noch einiges, das wir besprechen müssen.“

Nun legten alle vier Andrik die Ohren an. Widerwillen. Das Anlegen der Ohren musste Widerwillen bedeuten. Juluca konnte nicht sagen, ob Peluset das Zeichen richtig deutete. Die Meisterin fuhr unbeirrt fort. Ihr Lächeln kehrte jedoch nicht mehr zurück.

„Die Bestattung von Bugdor muss noch geplant werden – und die Bestattung der Andrik, die gestern im Kampf gegen uns gefallen sind.“

Verständnisloses Blinzeln leitete Grons Antwort ein. „Bestattung des toten Drjun ist Teil Drjuns-Zeremonie. Gefallene Andrik sind bereits bestattet. Klaznurt wird alle Fragen zu Drjuns-Zeremonie beantworten. Andrik müssen jetzt gehen, um zu arbeiten.“

Genauso langsam, wie die vier Andrik gekommen waren, verschwanden sie wieder im Eingang zum Südpfeiler. Die Hildriss-Leute blieben in ungemütlichem Schweigen zurück.