Der Tod des Tyrannen


1

Funken stoben unter dem Hammerkopf auf. Die Torflügel vibrierten einen Moment lang, dann kippten sie aus ihren Angeln. Mit ohrenbetäubendem Krachen schlugen die Metallplatten auf dem Boden des Thronsaals auf. Die letzte Barriere war gefallen. Jetzt stand nur mehr ein einziger Trupp Andrik zwischen den Hildriss-Leuten und dem Tyrannen von Igg. Allerdings mussten diese Andrik seine Leibwächter sein. Sie würden noch wilder und noch entschlossener kämpfen als die Wachen, die sie bisher niedergerungen hatten. Juluca prüfte den Sitz der Messerriemen in ihren Händen, während sie hinter Peluset, Cindre, Lichart und Veander in den Thronsaal stürmte. Als Wurfmesser würde sie ihre Klingen nicht mehr lange einsetzen können. Schon verdichtete sich das Kampfgewimmel. Aber wenn die Riemen nicht richtig saßen, würde sie auch im Nahkampf Schwierigkeiten bekommen. Noch im Laufen feuerte Juluca ihr linkes Messer in den Hals eines Andrik, der Peluset angriff. Mit demselben Schwung riss Juluca die Klinge aus der Wunde und ließ sie in ihre Hand zurückkehren. Der Andrik umklammerte seine Kehle. Gurgelnd stürzte er zu Boden. Juluca presste die Lippen zusammen. Welch bittere Ironie, dass die Andrik selbst jene Waffen ans Licht gebracht hatten, mit denen sie gerade angegriffen wurden. Das Yegran, das die Messer der Hildriss-Leute stets in ihre Hände zurückkehren ließ, stammte von hier – aus der Mine unter der Festung Olruf. Die Andrik bauten die Kristalle seit Jahrhunderten ab, versklavt von den Tyrannen von Igg. Aber nicht mehr lange. Heute würde der letzte Tyrann sterben. Heute befreite der Hildriss-Bund die Andrik.

Aus dem Augenwinkel konnte Juluca den ersten Blick auf den Tyrannen erhaschen. Peluset hatte ihn beinahe erreicht. Lichart und Cindre hielten der Meisterin den Rücken frei. Beide versuchten, die Andrik zurückzudrängen, ohne ihnen großen Schaden zuzufügen. Es ging allein um Bugdor, den Tyrannen. Jeder tote Andrik wäre ein Toter zu viel. Aber die Leibwächter des Tyrannen erkannten nicht, dass sie geschont werden sollten. Sie warfen sich gegen die Angreifer, als ob sie ihrem Herren Treue schulden würden. Wenn die Andrik doch nur begreifen würden, dass sie nichts mehr von Bugdor zu befürchten hatten! Nicht einmal seine Rüstung konnte ihn mehr retten. Die Yegran-Kristalle, die seinen Brustpanzer verstärkten, würden unter dem Schleim der Linsenkröte wegschmelzen wie Schneeflocken im Schmiedefeuer – genau so, wie die Kristalle am Torschleier der Festung geschmolzen waren. Juluca verbot es sich, nach der Flasche mit Krötenschleim zu tasten, die an ihrem Gürtel hing. Stattdessen schaffte sie einen Andrik mit einem Handkantenschlag aus dem Weg. Sein Helm flog davon und befreite seine Schlappohren von der unmäßigen Last. Obwohl der Andrik ziemlich groß war, reichte er Juluca gerade bis zur Brust. Mit ihrem blassen, samtartigen Fell und den feinen Gliedern erinnerten die Andrik an scheue Waldtiere. Nur die seltsame Nasenkante und die Augen passten nicht dazu. Kein Tier hatte eine Kopfform, die aussah wie eine Kugel, aus deren unterer Hälfte ein Stück herausgebissen worden war. Und kein Tier hatte derart undurchdringliche türkisfarbene Augen – Augen, die das Leid der Unterdrückten hinter Ausdruckslosigkeit verbargen. Vor lauter Mitgefühl wehrte Juluca den nächsten Angriff zu halbherzig ab. Beinahe hätte sie einen Speer in den Oberschenkel gerammt bekommen. Ärgerlich riss sie sich zusammen. Es war ihre Aufgabe, Peluset vor Angriffen von der rechten Seite zu schützen. Ein weiterer Blick aus dem Augenwinkel verriet ihr, dass die Meisterin das Gefecht mit dem Tyrannen bereits aufgenommen hatte. In diesem entscheidenden Kampf durfte Peluset keinesfalls bedrängt oder abgelenkt werden! Cindre und Lichart würden nicht genug Raum für das Duell zwischen Peluset und Bugdor freihalten können, wenn der Druck von den Seiten zu groß wurde. Noch hielten die beiden Streiter ihre Stellung. Drüben auf der linken Seite des Thronsaals tat Veander zweifellos sein Bestes. Juluca beschleunigte ihre Angriffe. Im Notfall würde Beromon ihr zu Hilfe kommen. Aber dieser Notfall sollte besser nicht eintreten. Sie brauchten Beromon am Portal des Thronsaals, um die Soldaten zu kommandieren und weitere Andrik fernzuhalten.

Für Messerwürfe blieb Juluca nun endgültig weder Zeit noch Platz. Sie musste die Klingen einsetzen wie ein Tier seine Krallen eingesetzt hätte. Die Yegran-Hälften auf den Messergriffen lösten sich bei den Hieben kaum mehr von ihren Gegenstücken in den Handflächen. Zum Glück waren auch die Andrik inzwischen dazu gezwungen, ihre kurzen Schwerter zu verwenden. Ihre Speere nützten ihnen in dem dichten Gewühl nichts mehr. Zweimal spürte Juluca den dumpfen Aufschlag einer Waffe auf ihrem Brustpanzer. Energisch kämpfte sie sich auf Licharts roten Haarschopf und auf Cindres hellblonde Locken zu. Einen weiteren Blick auf Peluset und den Tyrannen wagte sie unter dem Ansturm der Andrik nicht mehr. Plötzlich verschwand Cindres hellblondes Haar aus Julucas Sichtfeld. Im nächsten Moment wurde Lichart hart zurückgedrängt. War Cindre gefallen? Lichart allein würde dem Andrang der Andrik im Zentrum nicht standhalten können. Zu verzweifelt versuchten die Leibwächter, zu ihrem Herren zu gelangen. Ein heiserer Schrei drang in Julucas Ohren – eindeutig Licharts Stimme! Er musste verwundet worden sein. Juluca ließ ihre Hände nach unten fahren. Die Klingen schossen aus den Yegran-Ankern und trafen funkensprühend auf den Steinboden. Während Juluca in die Höhe gestoßen wurde, hoffte sie inständig, dass der Schaden an den Klingen nicht zu groß sein würde. In einem steilen Bogen segelte sie über die Köpfe ihrer Gegner, stieß sich nochmals von der Schulter einer Andrik ab, und landete neben Lichart. Die Messer waren noch im Sprung zu ihr zurückgekehrt, doch sie hatten schwer unter dem Aufprall gelitten. Einer Klinge fehlte die Spitze, die andere hatte sich verbogen. Mist. Viel Schaden würde sie mit diesen Waffen nicht mehr anrichten. Sie hätte genauso gut versuchen können, Lichart mit einer Reitgerte zu Hilfe zu kommen. Der nächste Andrik zuckte kaum zurück, als Julucas stumpfes Messer ihn am Arm traf. Die Klinge durchdrang nicht einmal seine Haut. Juluca hob ihre linke Hand vor den Mund und zerrte mit den Zähnen an den Riemen. Sie musste diese nutzlose Waffe loswerden und einem Andrik ein Schwert abnehmen. Die Abwehrschläge mit ihrer Rechten gaben dem verbogenen Messer den Rest. Der Griff fiel auseinander und ließ die Klinge zu Boden klirren. Nur die beiden Kristallhälften blieben in Julucas Hand. Erschrocken duckte Juluca sich unter den Schwerthieb einer Andrik und warf sich gegen die Angreiferin. Gemeinsam fielen sie mitten unter die Leibwächter. Die Riemen des stumpfen Messers glitten von Julucas Hand. Jetzt hatte sie gar keine Waffe mehr, nicht einmal eine beschädigte. Jetzt fehlte nur noch ein gut gezielter Streich in ihren Nacken oder in ihre Kniekehle, und sie wäre erledigt – ein weiteres Opfer, das der Hildriss-Bundes für die Freiheit der Völker von Silteu brachte...

Juluca zog ihre Beine an und den Kopf ein, damit der Großteil der Angriffsfläche durch ihren Rückenpanzer geschützt war. Aufspringen durfte sie nur dann, wenn sie sicher sein konnte, dabei eine Waffe zu ergattern. Unversehens krallte sich eine Hand um den oberen Rand ihres Rückenpanzers und zog sie hoch. Aus weit aufgerissenen Augen sah Juluca, dass die Andrik zurückgewichen waren. Das Aufblitzen einer Axt direkt neben ihrem Körper verriet ihr, warum. Der Kopf der Waffe war grellweiß und grausam gezackt. Eine solche Waffe trug nur einer – Bugdor, der Tyrann von Igg. Juluca erstarrte. Im nächsten Moment wurde ihr der Griff der Axt in die Hand gedrückt.

„Nimm das!“, zischte Veander in ihr Ohr. „Aber sei vorsichtig – das Ding stammt von einer Statue und ist wahrscheinlich keine echte Waffe. Ich weiß nicht, wie viel es aushält!“

Leben kehrte in Julucas Körper zurück. Der Tyrann von Igg stand also nicht hinter ihr. Leider hatte er ebenso wenig seine Waffe verloren, wenn dieses Ding hier von einer Statue stammte. Die Andrik schienen nicht recht zu wissen, was sie von der Axt in ihren Händen halten sollten. Juluca nützte die Unsicherheit der Leibwächter aus und trieb sie noch weiter zurück. Bei jedem Schwung wurde deutlich, dass die Axt viel zu leicht war. Um den Kopf der Waffe konnte nicht mehr als eine dünne Schicht Weißstahl liegen. Darunter verbarg sich wahrscheinlich Holz. Die Andrik würden den Schwindel rasch durchschauen.

Ein Aufschrei ließ Juluca innehalten und über ihre Schulter blicken. Peluset lag auf den Knien, vor dem Tyrannen von Igg. Seine Axt war zum Schlag gehoben. Hinter Bugdor stand Cindre, die Hand in sein Haar gekrallt. An seine entblößte Kehle presste sie eines ihrer Yegran-Messer. Im selben Augenblick holten der Tyrann und Peluset mit ihren Waffen aus. Bugdors Schwung riss ab. Die grellweiße Axt polterte zu Boden. Pelusets Yegran-Messer prallte gegen den ruinierten Brustpanzer des Tyrannen und blieb dort stecken. Blut ergoss sich über den Panzer, aber es quoll nicht unter Pelusets Messer hervor. Es rann von Bugdors Kehle herab. Es tropfte von Cindres Messer. Ihre Klinge hatte den letzten tödlichen Hieb des Tyrannen vereitelt.

Schlagartig trat Stille ein. Kein Andrik bewegte sich mehr. Erst als Cindre den toten Tyrannen zu Boden gleiten ließ, legten die Leibwächter ihre Waffen nieder und sanken auf die Knie. Juluca seufzte lautlos. Es war so, wie sie gehofft hatten: Sobald der Tyrann tot wäre, würden die Andrik den Kampf beenden.

Veander schlängelte sich zwischen den knienden Andrik hindurch zum Portal des Thronsaals. „Beromon! Bugdor ist tot!“

„Das habe ich angenommen“, kam in einem klingenden Tenor zurück. „Die Andrik hier draußen haben plötzlich aufgehört, zu kämpfen. Ich höre auch keinen Kampflärm mehr von den Stiegen oder aus dem Hof.“ Beromons wohlbehaartes Haupt erschien unter dem Portal. „Es sieht nach einem weiteren Sieg für den Hildriss-Bund aus – nach einem weiteren Sieg für die Freiheit in Silteu!“

Juluca sah, wie Veander einen Mundwinkel nach unten zog. Anscheinend fand er Beromons Ton wieder einmal zu ironisch – vor allem für die Ohren der Andrik. Aber Feierlichkeit lag dem Meister einfach nicht. Peluset würde das bestimmt wett machen. Schon die Art, wie sie sich von ihren Knien erhob, war beinahe weihevoll.

„Andrik!“, wandte die Hildriss-Meisterin sich an die Leibwächter. „Euer Herrscher ist besiegt! Der Tyrann, der euch unterdrückt und geschunden hat, liegt tot zu euren Füßen. Ihr seid frei! Frei, wie viele Völker von Silteu es sind, und wie alle Völker auf diesem Kontinent es sein sollten! Der Hildriss-Bund ist seiner Berufung gefolgt und hat euch durch uns – durch uns Meister, uns Streiter und durch unsere Soldaten – eure Freiheit geschenkt. Wir werden euch in diese neue Freiheit begleiten. Wir werden euch zeigen, wie ihr ein gutes, friedliches, selbstbestimmtes Leben führen könnt. Für euch und mit euch werden wir Igg zu einem blühenden Land machen. Zu einem Land ohne Tyrannei und ohne Leid!“

Die Andrik ließen ihren Blick von Peluset zu Cindre und den anderen Hildriss-Leuten schweifen. Keine Spur von Jubel oder Erleichterung zeigte sich auf ihren Gesichtern. Sie waren noch ausdrucksloser als zuvor. Im Kampf hatten zumindest einige von ihnen die Zähne gefletscht. Juluca strich sich eine aschblonde Haarsträhne, die ihrem Zopf entkommen war, aus der Stirn. Entweder hatte die Grausamkeit der Tyrannen den Andrik jegliche Mimik ausgetrieben, oder sie hatten von Anfang an keine gehabt. Vielleicht drückten sie ihre Gefühle anders aus. Jedes Volk von Silteu hatte seine ganz eigene Weise.

„Tretet jetzt ab!“, befahl Peluset den Andrik. „Berichtet allen Andrik, was in dieser Stunde und an diesem Ort geschehen ist! Bereitet euch in aller Ruhe darauf vor, die Befreiung von eurem Tyrannen zu feiern! Bald werden wir gemeinsam beraten, wie euer Leben von nun an aussehen soll! Wir versprechen euch, dass ihr in Zukunft eure eigenen Herren sein werdet! Doch das Ende einer Herrschaft und der Übergang zu einem neuen, freien Leben bedeutet viele Schwierigkeiten und große Unsicherheit. Wir Hildriss-Leute werden euch durch diese schweren Zeiten führen! Vertraut euch unseren Händen an, und in wenigen Jahren wird niemand mehr über euch entscheiden außer ihr selbst! Bis dahin werden wir für euch sorgen und für euch da sein. Vorerst werden wir und unsere Soldaten uns in den Räumen hier oben in der Festung einquartieren. Dies bedeutet nicht, dass wir Olruf besetzen! Diese Räume stehen nur leer, und wir können deshalb sofort einziehen. Den toten Tyrannen werden wir in einem Kellerraum aufbahren, bis klar ist, wie ihr mit ihm verfahren wollt. Dasselbe gilt für jene Andrik, die heute ihr Leben für den Tyrannen opfern mussten. Auch sie sollten aufgebahrt werden – fern von ihrem toten Herrscher und mit der größten Ehre. Doch nun ist es Zeit für eure ersten Schritte in Freiheit!“ Peluset wies mit weitausholender Geste auf das Portal des Thronsaals.

Die Worte der Meisterin fanden immer noch keinen Widerhall auf den Mienen der Andrik. Aber die Leibwächter zogen folgsam ab. Ihre Waffen und ihre Rüstungen ließen sie zurück.

Beromon blickte sich um. „Das heißt dann wohl, dass alle unsere Soldaten sich hier sammeln sollen – mitsamt unserem Gepäck, das noch vor der Festung liegt.“

Peluset nickte. „Ja, bitte kümmere dich darum, Beromon. Lichart wird übernehmen, sobald er verarztet ist.“

Juluca wirbelte herum. Sie hatte völlig darauf vergessen, dass Lichart verwundet worden war! Und wo steckte eigentlich Veander?

Sie brauchte nicht lange nach ihren Kameraden zu suchen. Vor einem Fenster des Thronsaals zeichneten sich die Silhouetten der beiden Hildriss-Streiter ab – Licharts baumlange, kräftige Gestalt und Veanders etwas kleinere, schlankere. Nur ihre Haarfarben schienen in diesem Licht beinahe dieselben zu sein. Auch Veanders hellbraunes Haar schimmerte in der Sonne rötlich. Veander hatte bereits den Ärmel von Licharts Hemd abgeschnitten und faltete ihn zu einem Verband. Seine Yegran-Messer hingen lose von seinen Handgelenken. Als Juluca neben Veander ankam, wurde sie von herabgezogenen Mundwinkeln empfangen.

„Dieser Messersprung war dumm, Jul – dumm und gefährlich! Du weißt genau, dass man einen Messersprung nur dann machen soll, wenn man sich damit aus einer lebensgefährlichen Lage retten kann!“

Schuldbewusst schloss Juluca die Finger um den Yegran-Kristall in ihrer rechten Hand. Einer Hildriss-Streiterin sollte nach einem Kampf unbedingt mehr von ihren Waffen bleiben als einer ihrer Yegran-Kristalle – besonders nach einem siegreichen Kampf. Ohne ihre Messer fühlte sie sich sogar ziemlich nackt und schutzlos. Trotzdem brauchte Veander sie nicht so abzukanzeln! Er kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie nichts aus Leichtsinn oder Dummheit tat.

„Und was ist, wenn man jemand anderen mit einem Messersprung aus einer lebensgefährlichen Lage retten kann?“

Veander rollte seine grünen Augen. „Wenn einer von uns dazu fähig ist, seine eigene Haut zu retten, dann ist das Lichart!“

Juluca straffte ihre Schultern. „Es ging nicht nur um Lichart – Cindre war plötzlich weg! Ich dachte, dass sie gefallen wäre. Allein hätte nicht einmal Lichart die Andrik daran hindern können, in den Kampf zwischen Peluset und dem Tyrannen einzugreifen – schon gar nicht, nachdem er verwundet war!“

„Das ist noch lange kein Grund, einen Messersprung zu machen! Ich hatte Lichart schon fast erreicht, als du gesprungen bist! Und wie kann ein Sprung, der dich mit kaputten Waffen zurücklässt, überhaupt irgendjemandem irgendwie helfen?“ Veander zog ein Kautschukband aus der Hosentasche und fixierte damit den Verband.

Lichart blickte auf. „Hör auf deinen Liebsten, Juluca – nicht nur deshalb, weil er mir sonst vor Zorn das Blut abschnürt!“

Eilig lockerte Veander das Kautschukband.

„Das ist wieder typisch für dich, Lichart!“ Frustriert breitete Juluca die Arme aus. „Du hältst zu Veander – wie immer! Du würdest sogar dann zu Veander halten, wenn ich dir wirklich das Leben gerettet hätte!“

„Natürlich würde ich immer zu Veander halten!“ Ein Grinsen blitzte auf Licharts Miene auf, während er den Sitz des Verbands prüfte. „Veander hat schließlich immer recht!“

„Blödsinn!“, murmelte Veander. Er löste die Riemen von seinen Handgelenken und befestigte die Yegran-Messer an seinem Brustpanzer.

„Zumindest hat Veander gerne recht!“ Juluca versuchte, in dem Durcheinander von Waffen, das die Andrik zurückgelassen hatten, ihr zweites Messer zu erspähen. Die Klinge konnte sie vergessen, aber der Yegran-Kristall – der Schatz jeder Hildriss-Streiterin – würde unbeschädigt sein. Nichts war so unverwüstlich wie gespaltenes Yegran. Nach der Spaltung wurden die Hälften plötzlich härter als der ungespaltene Kristall, härter als Stein, härter als die meisten Metalle.

Veander holte scharf Atem, doch Lichart kam ihm zuvor: „Er hat jedenfalls damit recht, dass er mich schon fast erreicht hatte, als Cindre plötzlich von meiner Seite verschwand. Ich bin sicher, dass Cindre es auch nur deshalb gewagt hat, ihren Platz zu verlassen und Peluset zu helfen. Peluset war im Duell gegen Bugdor gerade schwer unter Druck – stärker als wir Streiter durch die Andrik.“

Lichart deutete mit dem Kinn zum Ort der Entscheidung. Mechanisch folgten Julucas Augen der Geste. Peluset und Cindre standen immer noch neben dem toten Tyrannen, am Fuß der kurzen Treppe zum Thron von Igg. Unweigerlich wurde Juluca von dem Thron gefesselt. Der Herrschersitz war über und über mit Yegran besetzt. Ein kugelförmiges Gehäuse aus Weißstahl schirmte den Thron vom Tageslicht ab, damit der grüne Schimmer der Kristalle erstrahlen konnte. Juluca stockte der Atem. Dass es überhaupt so viel Yegran geben konnte! Ein einzelner Kristall war faszinierend. Man sah seinen Wert und ahnte seine verborgenen Kräfte. Trotzdem gewöhnte man sich daran, wenn man täglich mit Yegran-Messern trainierte. Aber an den Anblick dieses Throns würde sie sich niemals gewöhnen. Die unzähligen Yegran-Stücke strahlten geballte Macht aus und stellten alle anderen Schätze von Silteu in den Schatten. Der Sage nach katapultierte dieser Thron jede Person von sich, die unrechtmäßig darauf Platz nehmen wollte. In Wahrheit konnte nur der rechtmäßige Herrscher von Igg dem Thron nahe genug kommen, um sich überhaupt hinzusetzen. Am Eingang zum Throngehäuse, überstrahlt von den Kristallen im Inneren, saßen nämlich zwei Yegran-Leisten. Zwischen solchen Leisten spannte sich immer ein Torschleier auf. Bestimmt war er aus Yegran mit Gipsat-Einschlüssen geschaffen worden. Solche Torschleier mussten durch einen weiteren Yegran-Kristall geprägt werden. Dieser eine Kristall, der den Schleier geprägt hatte, war dann der Schlüsselstein. Nur wer den Schlüsselstein bei sich trug, konnte den Torschleier durchschreiten. Sie würden den Schlüsselstein zum Throngehäuse in den Kleidern des Tyrannen finden. Warum hatten Peluset und Cindre nicht schon damit begonnen, danach zu suchen? Juluca riss sich von dem Thron los.

Die Meisterin und die Streiterin standen unverändert. Sie starrten einander stumm an. Unsicher rückte Juluca näher. Sieben Schritte vor den beiden Frauen hielt sie inne und bückte sich nach ihrem zweiten Yegran-Messer. Als sie sich aufrichtete, wurde ihr Blick erneut gefesselt – von Bugdor, dem letzten Tyrannen von Igg. Der Tote sah aus wie ein ganz normaler Mensch. Leicht gewelltes, blondes Haar hing von seinem Kopf. Seine Rüstung umschloss eine durchschnittliche Statur. Sein Gesicht war frei von jeglichem Makel. Ohne die scharfen Linien, die sich auf seinen Zügen eingegraben hatten, wäre er vielleicht sogar schön gewesen. Juluca schüttelte den Kopf über sich selbst. Warum sollte der Tyrann von Igg nicht aussehen wie ein ganz normaler Mensch? Wenn Grausamkeit sich auf dem Gesicht eines Lebewesens ausdrücken würde, wäre die Arbeit des Hildriss-Bundes viel einfacher – oder sogar unnötig.

„Willst du mir nicht endlich sagen, was los ist, Peluset?“ Cindres Stimme hallte im Thronsaal wider. Sie klang noch schriller als gewöhnlich. „Oder hast du vor, mich für den Rest des Tages anzustarren, ohne ein Wort zu sagen?“

„Du weißt, was los ist. Ich warte auf eine Entschuldigung. Oder zumindest auf eine Erklärung.“

Obwohl Pelusets Antwort ruhig kam, hörte Juluca die kalte Entrüstung der Meisterin. Wenn Peluset zornig war, sprach sie leise – als ob sie ihren Zorn nicht einmal vor sich selbst zugeben wollte.

Auch Cindre musste die Entrüstung bemerkt haben. Sie kannte Peluset genauso gut wie Juluca. Aber sie kümmerte sich nicht darum: „Ich werde mich wohl kaum dafür entschuldigen, dass ich dir das Leben gerettet habe!“

„Mein Leben war nicht in Gefahr“, gab Peluset noch leiser zurück. „Und du hast mich oft genug kämpfen gesehen, um das zu wissen.“

Cindre hob die Hände. Weil sie noch ihre Yegran-Messer umgeschnallt trug, verfehlte die abwehrende Geste ihre Wirkung. „Kämpfe auf engem Raum sind immer unübersichtlich. Wenn ich Zeit dafür gehabt hätte, das Duell zwischen dir und Bugdor zu beobachten, hätte ich besser gewusst, wie die Dinge stehen. Aber ich hatte dir die meiste Zeit den Rücken zugewandt, weil ich dich vor den Andrik abgeschirmt habe. Und auf einen flüchtigen Blick hat es so ausgesehen, als ob du dringend Hilfe brauchen würdest. Bugdor war ein ausgezeichneter Kämpfer. Damit hat niemand gerechnet – auch du nicht!“

„Es war beschlossen, dass ich den Tyrannen töten würde!“ Pelusets flüsterte beinahe.

Umso lauter klang Cindres Antwort: „Es war beschlossen, dass wir den Tyrannen töten würden – dass der Hildriss-Bund die Andrik befreien würde. Das haben wir getan. Willst du, dass der Hildriss-Bund eine seiner besten Meisterinnen verliert, nur weil sie es mit einem Gegner zu tun hatte, der ihr ebenbürtig war – gegen alle Erwartungen? Wolltest du sterben?“

„Ich war nicht in Lebensgefahr“, wiederholte Peluset. „Ich war nicht in Lebensgefahr, bevor dein Messer an der Kehle des Tyrannen saß, und danach war ich erst recht nicht in Lebensgefahr! Du hättest mich den Todesstreich gegen Bugdor führen lassen müssen!“

„Das Risiko war zu groß! Ich konnte natürlich sehen, wie du zum Todesstreich ausgeholt hast – aber Bugdor hob seine Axt, und ich war überzeugt, dass er dich im selben Moment treffen würde, in dem dein Messer ihn treffen würde! Außerdem wäre dein Messerwurf nicht tödlich gewesen! Die Klinge ist doch in Bugdors Brustpanzer stecken geblieben!“ Cindre wies hinunter auf den Tyrannen.

Peluset löste ihren Blick nicht von der Streiterin. „Mein zweites Messer hätte seine Kehle getroffen. Ich habe es nur nicht mehr geworfen, weil du deine Klinge schon durchgezogen hattest. Bugdor sank deshalb zusammen – ich hätte dich getroffen, wenn ich das Messer noch geworfen hätte, nicht ihn!“

„Ich kann es nur noch einmal sagen – das Risiko war zu groß! Bugdor war bereits geschlagen, weil meine Klinge an seiner Kehle saß! Wie, bei Hildriss, hätte ich es da riskieren können, dass er dich mit seinem letzten Hieb in den Tod mitreißt? Ich habe nur die Pflicht erfüllt, die ich als Hildriss-Streiterin vor meiner Meisterin habe! Du kannst mir nicht vorwerfen, dass du jetzt dank meiner Hilfe die Regentschaft über die Andrik antreten wirst – so, wie es geplant war!“ Cindres Gesten wurden so heftig, dass ihre Yegran-Messer sich ein Stück aus ihren Handflächen lösten. Mit vielgeübten Bewegungen holte die Streiterin sie zurück und band die Messerriemen endlich los.

Wenn ich die Regentschaft antreten kann!“ Pelusets Stimme wollte nicht lauter werden. „Erinnere dich an das, was wir so oft besprochen haben: Wir müssen davon ausgehen, dass die Andrik nur diejenige Person als Regenten akzeptieren werden, die ihren Tyrannen getötet hat! Sie haben doch Jahrhunderte der Tyrannenherrschaft hinter sich, und in diesen Jahrhunderten gab es kein einziges Mal einen friedlichen Machtwechsel! Immer wurde der frühere Tyrann von dem neuen getötet! Wahrscheinlich ist den Andrik nicht mehr bewusst, dass Macht und Herrschaft nicht von einem blutigen Sieg über den alten Herrscher abhängen! Und genau das ist der Grund dafür, warum in unserem Plan festgelegt war, dass ich den Todesstoß gegen Bugdor führen würde!“

„Ich habe das nicht vergessen.“ Cindre zurrte die Riemen der Yegran-Messer an der Metallschlaufe ihres Brustpanzers fest. „Aber erstens handelt es sich dabei nur um Vermutungen. Wir wissen so gut wie nichts über die Andrik und darüber, was sie über Macht und Herrschaft denken. Zweitens wollen wir den Andrik sowieso etwas Neues über Macht und Herrschaft beibringen – damit können wir ebenso gut früher beginnen wie später. Und drittens spielt das Ganze überhaupt keine Rolle. Wen immer die Andrik in der Übergangszeit als Regenten ansehen – solange es jemand aus dem Hildriss-Bund ist, wirst du das Sagen in Igg haben, Peluset. Du bist schließlich die Meisterin, der die Hochmeister die Mission zur Befreiung der Andrik übertragen haben. Deshalb werden alle anderen Meister und Streiter hier in Igg auf dich hören – egal, was die Andrik in ihnen sehen, oder was sie in dir sehen. Der neue Regent ist doch sowieso nur eine Pappfigur für die Andrik, damit ihnen der Übergang leichter fällt. Wir sind hier, um eine völlig neue Regierung aufzubauen – unter deiner Führung. Und genau deshalb habe ich es für meine Pflicht gehalten, dich vor Bugdor zu beschützen! Damit du diese Führung tatsächlich übernehmen kannst!“

Pelusets Augen wurden schmal. Nach langem Schweigen gewann die Stimme der Meisterin endlich wieder ihre normale Lautstärke. „Nun gut. Was geschehen ist, ist geschehen. Ich muss davon ausgehen, dass du wirklich das Beste wolltest – so, wie es in den Regeln unseres Bundes niedergelegt ist. Ich erwarte allerdings von dir, dass du dich heute nicht mehr vor den Andrik zeigst. Das bedeutet, dass du jetzt Veanders Aufgabe übernehmen wirst, und er deine. Inspiziere die Gemächer des Tyrannen, stell sicher, dass dort keine Gefahren für uns lauern. Sobald einer der Hauptmänner dir eine Skizze der Festung bringt, teilst du die Räumlichkeiten für uns und unsere Soldaten auf. Veander –“ Peluset wandte sich dem Streiter zu. „Ist Lichart inzwischen aufgebrochen, um das Kommando über die Soldaten zu übernehmen?“

„Ja.“

„Gut. Dann hilf mir dabei, Bugdor von seinen Schätzen zu befreien und ihn für den Transport in den Keller fertigzumachen.“

Veanders Mundwinkel erreichten einen neuen Tiefpunkt.

Ein amüsiertes Funkeln zeigte sich in Pelusets Augen. „Keine Sorge – Grausamkeit ist nicht ansteckend.“

Veander winkte ab. „Ich fürchte eher, dass ich mich nicht zusammenreißen kann, wenn ich den Körper von diesem Monster in meine Finger kriege. Am liebsten würde ich noch den toten Tyrannen für alles büßen lassen, was er den Andrik zu seinen Lebzeiten angetan hat!“

„Rache hinterlässt immer eine zweite Narbe auf der Seele“, zitierte Peluset.

„Besonders dann, wenn die Rache denjenigen, an dem man sich rächen will, nicht mehr erreicht.“ Angewidert betrachtete Veander den toten Tyrannen.

Peluset krempelte die Ärmel hoch. „Bringen wir es hinter uns. Und du, Juluca, gehst jetzt auch besser auf deinen Posten. Ich glaube nicht, dass die Andrik sich unseren Anordnungen widersetzen werden, aber sicher ist sicher. Außerdem solltest du so bald wie möglich damit beginnen, sie zu beobachten.“

Juluca ließ ihren Stiefelabsatz auf den Steinboden knallen und drehte sich um. Sie war noch nicht einmal zwei Schritte gegangen, als Veander sie aufhielt:

„Warte! Du solltest nicht unbewaffnet da draußen herumlaufen! Nimm meine Messer!“

Genervt blieb Juluca stehen. Würde Veander nun den ganzen Tag darauf herumreiten, dass sie ihre Waffen mit dem Messersprung ruiniert hatte?

„Ich werde doch nur auf dem Dach der Festung sein – dort treffe ich sicher keinen einzigen Andrik. Die Wachen sind bestimmt schon alle abgezogen worden, und unsere eigenen Soldaten stehen stattdessen auf Posten. Aber du wirst bald Bugdors Leiche hinunter in den Keller bringen, und du weißt nicht, was Peluset dir danach auftragen wird. Also brauchst du deine Messer selbst. Außerdem sind die Messerriemen an deine Hände angepasst.“

„Besser eine Waffe, die nicht perfekt sitzt, als gar keine Waffe. Nimm wenigstens eines der Messer“, beharrte Veander. „Wenn du nicht möchtest, dass ich in einer frisch eroberten Festung ohne meine Waffen herumlaufe, müsstest du doch auch verstehen, warum ich nicht will, dass du unbewaffnet herumläufst – auch wenn es nur oben auf dem Dach ist!“

Die Vorstellung, dass Veander unbewaffnet in einer fremden Festung herumlief, umringt von einem fremden Volk, erzeugte tatsächlich ein Flattern in Julucas Magen. Abrupt nahm sie ihm eines der Messer ab.

„Danke.“

„Jederzeit.“ Veanders Lippen verloren ihre Anspannung. Für ein Lächeln reichte es nicht.

Während sie den Thronsaal verließ, befestigte Juluca die Messerriemen an ihrer linken Hand. Sie passten überraschend gut. Warum vergaß sie immer, wie schlank Veanders Hände waren? Auf jeden Fall fühlte sie sich jetzt doppelt geschützt – durch das Messer in ihrer Hand und durch Veanders Fürsorge.

Im Gang vor dem Thronsaal waren Hildriss-Soldaten damit beschäftigt, ihre gefallenen Kameraden und die toten Andrik für die Aufbahrung vorzubereiten. Die Zahl der zierlichen, befellten Leichen übertraf die Zahl der gefallenen Menschen um ein Vielfaches. Julucas Kehle wurde eng. Wenn es ihnen doch schneller gelungen wäre, Bugdor zu töten! Dann hätten nicht so viele Andrik sterben müssen! Aber wie hätten sie noch schneller sein können? Der ganze Angriff war glatt verlaufen. Kein Späher hatte die Soldaten entdeckt, die der Festung in nächtlichen Eilmärschen immer näher gekommen waren. Die Wachen hoch oben auf dem Dach hatten erst bemerkt, dass sich jemand am Nordwest-Schleier zu schaffen machte, als der Krötenschleim schon auf das Yegran aufgetragen wurde. Noch vor dem ersten Alarm waren die Kristalle aus ihrer Leiste geronnen wie schwere Wachstropfen. Neun Yegran-Stücke hatte die große Flasche mit Linsenkrötenschleim zum Schmelzen gebracht. Damit war ein Spalt am Fuß des Torschleiers entstanden, der drei Ellen hoch war. In wenigen Minuten hatten alle zweihundert Hildriss-Soldaten sich durch diesen Spalt geduckt und den Hof der Festung besetzt. Gemeinsam mit den Meistern und Streitern hatten die Soldaten danach den Weg zum Thronsaal gebahnt, zum Tyrannen. Die Andrik waren tapfer gewesen, doch gegen diese plötzliche Übermacht hatten sie keine Chance gehabt. Zum Glück hatte auch Bugdor keine Chance gegen Peluset und Cindre gehabt.

Endlich erreichte Juluca die Treppe und konnte das Schlachtfeld hinter sich lassen. Oben auf dem Dach war nicht gekämpft worden. Zumindest lagen keine Toten auf den Stiegen. Trotzdem hob Juluca wachsam die Hand mit dem Messer, solange sie die Treppe hochstieg. Gleich darauf stand sie im Freien, auf dem Dach der Festung Olruf.

Wer nichts über Yegran-Schleier wusste, hätte in dem Gebäude niemals eine Festung gesehen. Statt massiver Mauern ragten vier mächtige Pfeiler in die Luft, gekrönt von vier Bögen, die einen quadratischen Hof umschlossen. In den Pfeilern befanden sich die Stiegenaufgänge und kleinere Räume. Oben in den Bögen der Festung hatten die Tyrannen von Igg residiert. Dort lagen der Thronsaal und die Gemächer. Das Audienzzimmer. Die Wohnungen für Gäste. Die Speisesäle. Die Bibliothek. Die Galerie. Das Archiv. Das Labor. Die Küche und alle anderen Nebenräume, die zur Bedienung der Tyrannen notwendig gewesen waren. Die Andrik wohnten unter den stolzen Bögen der Festung, sogar unter den Pfeilern. Und dort, tief unter der Erde, arbeiteten sie auch. Sie schürften nach dem Yegran – dem Schatz von Igg.

Yegran-Kristalle waren ein Rätsel und ein Wunder. In dem Augenblick, in dem ein Stück Yegran gespalten wurde, entfaltete es seine besonderen Kräfte. Seine Hälften verloren niemals ihre Verbindung zueinander. Die Art der Verbindung zwischen den Teilen hing davon ab, welche Einschlüsse der jeweilige Kristall enthielt. Für die Messer der Hildriss-Leute brauchte man Kristalle mit Magnel-Einschlüssen. Ihre Hälften wurden wie Magnete voneinander angezogen – oder vielmehr wie Kautschuk-Bänder. Egal, wie heftig man einen Teil wegschleuderte, er kehrte immer zu seinem Gegenstück zurück. Mit der richtigen Bewegung konnte man die weggeschleuderte Hälfte schneller zurückholen.

Die Hälften eines Yegran-Stücks mit Rald-Einschlüssen hingegen schnellten auseinander, sobald der Kristall gespalten wurde. Sie konnten nicht wieder zusammengebracht werden, doch genauso wenig konnten sie noch weiter voneinander entfernt werden. Sie hielten immer den exakt gleichen Abstand voneinander. Wie groß dieser Abstand war, hing von der Größe des Kristalls ab.

Die Kräfte der meisten Yegran-Arten entfalteten sich jedoch ohne Anziehung oder Abstoßung zwischen den Kristallhälften, und auch der Abstand spielte kaum eine Rolle. Yegran mit Colasse-Einschlüssen entwickelte immer gleich viel Hitze, nachdem man die beiden Hälften voneinander getrennt hatte. Man konnte die Teile ebenso gut in den Ecken eines kleinen Raumes anbringen wie an den Enden eines Saals. Natürlich würde man die Wärme des Colasse-Yegran nur in dem kleinen Raum spüren. Um einen Saal zu heizen, brauchte man mehrere von diesen Kristallen.

Die Leuchtkraft von Halonit-Yegran nahm zwar ab, wenn seine Hälften zu weit voneinander entfernt wurden, aber erst nach hundert Schritt. In hundertzwanzig Schritt Entfernung zeigten auch Halonit-Kristalle nur mehr den vagen grünen Schimmer, den alles Yegran ausstrahlte, gespaltenes wie ungespaltenes.

Am häufigsten kam Erast-Yegran vor – ironischerweise. Die beiden Hälften dieser Kristalle schienen völlig wirkungslos nebeneinander zu liegen. Nur die Dolentianer kannten das Geheimnis dieser Einschlüsse. Kein Forscher aus einem anderen Volk hatte jemals herausbekommen, welche Kräfte sich im Erast-Yegran verbargen.

Torschleier aus Yegran kannte hingegen ganz Silteu – nicht zuletzt wegen Olruf. Trotz der offenen Bögen war den Hof der Festung jedem Feind versperrt. An den Innenseiten eines jeden Pfeilers saßen Leisten mit Yegran-Hälften. Zwischen ihnen spannten sich Bänder auf, die nichts durchließen. Eine undurchdringliche, kaum sichtbare Barriere zog sich von Leiste zu Leiste, genau wie am Throngehäuse. Aber nicht alle Torschleier wurden aus Gipsat-Yegran gemacht, wie jener vor dem Throngehäuse. Die meisten bestanden aus Kristallen mit Buklitt-Einschlüssen, auch die vier großen Torschleier von Olruf. Diese Yegran-Schleier konnten nicht mit einem Schlüsselstein geprägt werden. Nichts machte sie durchlässig. Bei Schleiern aus Buklitt-Yegran musste es einen Mechanismus geben, mit dem sich das Tor öffnen ließ. Was hätte man auch mit einem einzigen Schlüsselstein für das Tor einer ganzen Festung anfangen sollen? Wenn er gestohlen wurde oder verloren ging, hätte man den Schleier nur noch zerstören können. Dabei würde man ein Vermögen vernichten. Nichts war kostbarer als Yegran. Ein Kristall in der Größe eines Vogeleis kostete so viel, wie eine sechsköpfige Menschenfamilie in einem Jahr für Nahrung ausgab. Für ein Stück Yegran mit besonders begehrten Einschlüssen musste noch mehr bezahlt werden. Unter den Tyrannen waren viele Kristalle pro Jahr verkauft worden, und die meisten davon waren größer als ein Vogelei gewesen. Das Yegran hatte die Tyrannen von Igg zu den reichsten Herrschern von Silteu gemacht.

Dem Land um Olruf sah man diesen Reichtum nicht an. Eine trostlose Einöde erstreckte sich in alle vier Himmelsrichtungen. Unter ihren Tyrannen war den Andrik der Anbau von Getreide, Obst und Gemüse streng verboten gewesen. Sie sollten ganz und gar von ihrem Herrscher abhängig sein. Es würde viel Arbeit brauchen, bis hier etwas wachsen konnte. Der Wind hatte den Boden ausgedörrt und die fruchtbare Erde fortgetragen. Zorn auf die Tyrannen lebte in Juluca auf. Aber sie würde ihre Kraft nicht mit Zorn auf die Vergangenheit vergeuden! Und vor ihren Augen lag nichts als Vergangenheit. Die Ära der Tyrannen von Igg war heute zu Ende gegangen.

Langsam schritt Juluca das Quadrat über den Bögen ab. Die Wachposten auf den Pfeilern waren tatsächlich schon von Hildriss-Soldaten besetzt worden. Man konnte nie vorsichtig genug sein. Bugdor hatte zwar keine Verbündeten gehabt, die kommen würden, um ihn zu rächen. Aber das Yegran war eine große Verlockung für die Völker von Silteu, und an der westlichen Grenze von Igg waren immer Banditen unterwegs. Das öde, unbesiedelte Land bot ihnen Verstecke vor den Gesetzeshütern aller Länder. Besonders wagemutige Banditen könnten versuchen, die unsichere Lage nach dem Sturz des Tyrannen auszunutzen. Durch den Spalt unten am Nordwest-Schleier war die Festung verwundbar. Natürlich würde die Wache im Hof verstärkt werden, solange der Spalt offen stand. Trotzdem hing alles davon ab, dass man die Gefahr schon von Weitem kommen sah. Bugdors Ende bewies das am besten. Kaum vorstellbar, dass die Andrik den Anmarsch von zweihundert Hildriss-Soldaten übersehen hatten – selbst wenn die Soldaten im ersten Morgengrauen angekommen waren. Juluca gähnte. Nächtliche Märsche gehörten nicht zum angenehmsten Teil einer Mission. Speziell, wenn man tagsüber in voller Rüstung und in ständiger Alarmbereitschaft schlafen musste...

Plötzliche Bewegung unten im Hof erinnerte Juluca an ihre Pflicht. Sie sollte die Andrik beobachten, so gut es von hier oben ging. Viel würde sie nicht erkennen. Aber im Moment zählte nur, ob die Ordnung unter den Andrik nach Bugdors Tod hielt. Die ersten Stunden einer Mission waren überaus heikel. Bei der Befreiung der Muup von der Starren Kaiserin vor vierzig Jahren war viel Blut geflossen, weil ein Hildriss-Streiter eine Tempeltänzerin zu lange angesehen hatte. Bugdor war für dreißig Jahre der Herrscher über Igg gewesen. Der letzte Machtwechsel lag also lange zurück. Das allein musste die Andrik verunsichern. Gleichzeitig hatten sie einen äußerst ungewöhnlichen Machtwechsel erlebt. Kein neuer Tyrann war gekommen, um den alten Herrscher zu töten. Stattdessen hatten die Mitglieder eines Bundes, der für die Freiheit der Völker von Silteu kämpfte, die Festung gestürmt. Nach Jahrhunderten der Sklaverei klang es in den Ohren der Andrik gewiss unglaublich, dass sie nun frei sein sollten. Je weniger die Hildriss-Leute jetzt in die Angelegenheiten der Andrik eingriffen, desto besser. Die Andrik würden rascher Vertrauen in die Hildriss-Leute fassen, wenn sie sich nicht wie die alten Tyrannen verhielten. Und die Soldaten zu schicken, weil sie Ordnung unter den Andrik schaffen mussten, würde aussehen wie die Tat von Tyrannen – selbst wenn es nur zum Besten der Andrik wäre.

Noch gab es kein einziges Zeichen von Unruhe unten im Hof, obwohl immer mehr Andrik sichtbar wurden. Anscheinend hatten sie Beromon darum gebeten, selbst für ihre Toten sorgen zu dürfen. Die Gefallenen wurden nebeneinander im Hof aufgereiht. Mehrere Gruppen von Andrik knieten neben den Toten nieder und machte sich an ihnen zu schaffen. Wurden die Toten gewaschen oder gesalbt? Vorsichtig beugte Juluca sich weiter über die niedrige Brüstung und kniff die Augen zusammen. Nein – hier wurde genäht! Die Andrik verschlossen die Wunden ihrer Toten mit Nadel und Faden, wie Ärzte es bei lebendigen Verletzten taten! Ein Andrik, der zur Totenruhe gelegt wurde, musste offenbar unversehrt sein. Sogar eine abgetrennte Hand wurde sorgfältig wieder an ihren Platz gebracht. Sobald alle Wunden verschlossen waren, trugen die Andrik die Toten in den Südpfeiler der Festung. Kaum ein Wort wurde laut. Selbst jener Andrik, der die anderen überwachte und dirigierte, gab wenige Befehle. Juluca merkte, wie sie sich unter der Ruhe und Ordnung entspannte. Es mochte grausam sein, dass diese Ordnung von jahrhundertelanger Tyrannenherrschaft kam. Aber der Beginn dieser Mission wäre um so viel schwieriger gewesen, wenn es Aufruhr unter den Andrik gegeben hätte! Und es war beinahe ein Wunder, dass die Hildriss-Leute den Andrik noch nicht auf die Zehen getreten waren. Sie wussten viel zu wenig über das Volk, das sie gerade von ihrem Tyrannen befreit hatten.

Genau deshalb hatten die Hochmeister die Mission zur Befreiung der Andrik so lange hinausgezögert. Eigentlich hätten die Tyrannen von Igg schon vor langer Zeit vernichtet werden müssen. Sie gehörten zu den grausamsten Herrschern in Silteu, und für die Auslöschung solcher Herrscher war der Hildriss-Bund vor hundertdreiundsiebzig Jahren gegründet worden. Hildriss höchstpersönlich hatte den baldigen Sturz der Tyrannen von Igg angekündigt – nicht zuletzt deshalb, weil das Yegran-Messer zu ihrem Wappen und zur geweihten Waffe der Hildriss-Leute geworden war. Solange das Yegran von Sklaven abgebaut wurde, durfte kein Meister und kein Streiter seine Messer mit reinem Gewissen verwenden. Aber noch hatte der Bund nicht genug über die Andrik gewusst. Kein Volk konnte reibungslos in die Freiheit geführt werden, wenn es seinen Befreiern so fremd war. Also hatte Hildriss beschlossen, dass sie vor dem Angriff auf Igg mehr über die Andrik lernen musste. Kurz darauf waren die Kriege des Blutfürsten ausgebrochen. Nach dem Sieg über den Blutfürsten hatte der Bund die vielen grausamen Herrscher beseitigen müssen, die sich zu Nachfolgern des Blutfürsten erklärt hatten. Dann waren auch noch die Jüngeren Wengil nach Nohmdal geflüchtet und hatten den Bund um Hilfe gegen die Älteren Wengil angefleht. Der Kampf gegen die Älteren Wengil war langwierig und zäh gewesen, genau wie die anschließende Befreiung der Muup von der Starren Kaiserin. Durch all diese Jahrzehnte hindurch hatten die Hochmeister immer wieder geschworen, die Tyrannen von Igg zu stürzen. Aber es war nie dazu gekommen. Erst der hundertfünfzigste Todestag von Hildriss, vor zwei Jahren, hatte einen festen Entschluss gebracht: Zu Ehren der Gründerin des Bundes sollte endlich ihr ältestes Versprechen eingelöst werden. Die Hochmeister hatten zwei Meister und vier Streiter für die Mission zur Befreiung der Andrik ausgewählt: Peluset, Beromon, Cindre, Lichart, Veander und Juluca.

Bald war klar geworden, dass die Welt immer noch nicht mehr über die Andrik wusste als zu Hildriss’ Lebzeiten. Zwei Jahre harte Arbeit in der Bibliothek von Nohmdal – eine der größten Bibliotheken von Silteu – hatten kaum etwas zutage gefördert. Es gab viele Bücher über die Leben der Tyrannen. Woher sie gekommen waren. Wie sie ihre Jugend verbracht hatten. Wie sie sich in das Vertrauen des früheren Tyrannen geschmeichelt hatten, oder wie es ihnen gelungen war, eine Armee für den Sturm auf Olruf um sich zu sammeln. Wie sie ihren Vorgänger getötet hatten. Wie prunkvoll ihr Leben als Tyrannen gewesen war.

Auch über das Yegran gab es unzählige Bände. Spekulationen darüber, warum diese besonderen Kristalle nur in Igg vorkamen, und wie sie wahrscheinlich entstanden. Dicke Schwarten über die unterschiedlichen Einschlüsse, ihre Kräfte, und wie man sie einsetzen konnte. Die gesammelten Ergebnisse von jahrhundertelanger Yegran-Forschung.

Zum Land Igg standen einige alte Bücher in der Bibliothek. Sie beschrieben die Berge und Flüsse, die Pflanzen und Tiere, das Klima. Dazu gab es neuere Bücher über das Land Igg, in denen die Verödung und der Verlust der Pflanzen und Tiere beklagt wurde. Es gab sogar einen Band Gedichte über die trostlose Landschaft von Igg. Nur über die Andrik gab es kein Buch. Es gab nicht einmal ein Notizheft. Aus allen Büchern der Bibliothek hatten die Hildriss-Leute nur wenige Einzelheiten über dieses Volk zusammentragen können.

Die Andrik waren von jeher Erdbewohner und ernährten sich vor allem von Pflanzen. Ihr helles, samtartiges Fell wurde kaum schmutzig. Staub haftete ebenso wenig daran wie Schlamm oder Öl. Im dunklen Zeitalter, als die Menschen sich noch für die einzigen intelligenten Lebewesen auf dem Kontinent Silteu gehalten hatten, waren die Andrik wegen ihres Fells gejagt worden. Aus diesen düsteren Zeiten hielten sich noch Sagen über wilde, geradezu bestialische Andrik. Jüngere Berichte sprachen hingegen von einer strengen Rangordnung unter den Andrik. Das Wort der Höchstrangigen war Gesetz. Trotzdem nahmen einige Gelehrte die alten Sagen ernst. Sie schoben die strikte Rangordnung auf den Instinkt von Raubtieren – in einem Rudel Raubtiere musste eine strenge Rangordnung herrschen, damit die Mitglieder sich nicht gegenseitig zerfleischten. Lächerlich! Sicher waren die Andrik im dunklen Zeitalter nur während der Angriffe der Jäger bestialisch gewesen. Wenn diese Wildheit tief in ihrer Natur verwurzelt gewesen wäre, hätte nicht einmal der grausamste Tyrann die Andrik unterwerfen und unterdrücken können. Die strikte Rangordnung stammte erst aus späterer Zeit – eingeführt von den Tyrannen selbst. Mit einer strikten Rangordnung ließ sich ein Volk leichter unterdrücken.

Das Yegran war den Andrik zum Verhängnis geworden. Sie hatten das Pech gehabt, dort zu leben, wo die einzige Yegran-Mine lag. Nur ein Jahrzehnt nach der Entdeckung der magischen Kristalle hatte der erste Tyrann die Andrik dazu gezwungen, Yegran für ihn abzubauen. Beim ersten Blick auf die Andrik wirkte die Entscheidung des ersten Tyrannen absurd. Für die schwere Arbeit in einer Mine schienen die zierlichen Andrik völlig ungeeignet zu sein. Jedes andere Volk von Silteu hatte mehr Kraft. Freilich waren die Tyrannen zwar grausam gewesen, aber nicht dumm. Als Erdbewohner sahen die Andrik ausgezeichnet im Dunkeln. Ihre feinen Ohren nahmen Bewegungen im Erdreich und im Stein rasch wahr. Ihr Orientierungssinn wurde selbst von den verwinkeltsten Stollen nicht verwirrt. Und zu guter Letzt mussten die Andrik eindeutig zäher sein als ihr Aussehen vermuten ließ. Also hatten sie als Sklaven der Tyrannen in der Mine geschuftet, verborgen vor allen wohlwollenden Augen. Niemand wusste, wie es in der Mine aussah. Niemand wusste, wie es in den Wohnungen der Andrik aussah. Lebten sie in Kleinfamilien? In Großfamilien? In Paaren? Durfte jeder Andrik Kinder haben, oder gab es nur einige wenige, die Nachwuchs hervorbrachten? Gab es überhaupt nur eine Königin, die Eier legte, wie in den Schwärmen der Wengil? Wie hatte die Kleidung der Andrik ausgesehen, die sie vor der Herrschaft der Tyrannen hergestellt hatten? Wie ihre Werkzeuge? Sangen sie? Dichteten sie? Sammelten sie auf irgendeine Weise ihr Wissen? Worauf baute ihre strenge Rangordnung auf? Wurden sie in ihren Rang hineingeboren oder konnten sie ihn auf andere Weise erwerben?

Das alles würden die Hildriss-Leute jetzt schnell lernen müssen. Entschlossen richtete Juluca sich auf. Sie musste das alles jetzt schnell lernen. Es war vor allem ihre Aufgabe, das alltägliche Leben der Andrik zu beobachten und zu verstehen – ihre erste Aufgabe auf ihrer ersten Mission als Hildriss-Streiterin. Wenn Peluset und die anderen Hildriss-Leute Schwierigkeiten mit den Andrik bekamen, würden sie sich an sie wenden. Die meisten Spannungen entstanden aus Missverständnissen. Die meisten Missverständnisse entstanden, wenn der Eine etwas für selbstverständlich hielt, was dem Anderen fremd war. Diese blinden Flecken musste sie entdecken, bevor sie wirklichen Schaden anrichten konnten. Nur dann würde der Hildriss-Bund den Andrik wirklich Freiheit bringen, statt Chaos und Grausamkeit. Nur dann würde nach einigen Jahren ein neues, freies Volk über Igg herrschen – so, wie es überall in Silteu sein sollte. So, wie es am Ende überall in Silteu sein würde. Dafür gab es den Hildriss-Bund, und dafür war sie eine Hildriss-Streiterin geworden.